Fotografie von Floris Neusüss
Die Veräußerlichung der Innenwelt im Bild
Mit der Ausstellung "Traumbilder" widmet die Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum dem Fotokünstler Floris Neusüss zum 75. Geburtstag eine umfassende und sehenswerte Werkschau seiner Kamerafotografie.
Es ist ja fast schon der Ritterschlag für einen Künstler, wenn eines seiner Werke dem Übereifer von Bauarbeitern oder Reinigungskräften zum Opfer fällt. Floris Neusüss ist das auch passiert. 1972 fotografierte er "VIPs der dokumenta 5", eine Reihe von Portraits nicht nur der Künstler und Ausstellungsmacher, sondern auch von Angestellten und Besuchern in ihren selbstgewählten Posen. 36 Aufnahmen hängte der Künstler ungeschützt in einer Fußgängerunterführung auf, wo sie schnell das Ziel von Vandalismus wurden. Zu der geplanten Ausstellung der so auf rustikale Weise veränderten Bilder kam es nicht mehr. Die Stadtreinigung hatte sie kurzerhand entsorgt. Zum ersten Mal seit 1972 wird die vollständige Reihe in neuen Abzügen nun in München wieder gezeigt. Portraits von Joseph Beuys und Rebecca Horn sind darunter, auch ein fußwippender Bazon Brock ist zu entdecken.
Floris Neusüss, 1937 in Lennep geboren, bekommt schon als Jugendlicher seine erste Kamera. Aber er beginnt zunächst ein Studium der Wandmalerei an der Werkkunstschule Wuppertal. Fotografie lernt er an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München und schließt die Ausblildung 1960 erfolgreich an der Berliner Hochschule für Bildende Kunst ab. Nach Jahren freier künstlerischer Tätigkeit in Berlin, Wien und München wird er 1966 zunächst Dozent, ab 1972 bis 2002 dann Professor für experimentelle Fotografie an der Kunsthochschule Kassel. München blieb er stets eng verbunden, die Jahre dort bezeichnet er als prägend. 2007 überließ er seinen gesamten Bestand an Kamerafotografie mit über 700 Originalaufnahmen der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum.
Berühmt wurde der Künstler durch seine Arbeiten ohne Kamera. Fotogramme, bei denen mehr oder weniger transparente Objekte direkt auf lichtempfindliche Materialien wie Film oder Fotopapier belichtet werden, prägen sein Werk. In der 1970er Jahren entwickelt er aus dieser Technik mit dem Nudogramm eine Sonderform: Zunächst Akt-, später auch bekleidete Modelle werden hinter einer Stoffwand platziert, die Schattenrisse abgelichtet und durch Doppelbelichtung, Solarisation und Labortechnik bearbeitet, bis das erstrebte surreale Bild entsteht.
Aber nie ging es ganz ohne Kamera. Die Münchner Ausstellung zeigt Arbeiten aus den Jahren 1958 bis 1983 in vier Themenkomplexen: Traumbilder, Schaufenster, Portraits und konzeptionelle Fotoaktionen. Das war in dieser Vielfalt seit 1977 nicht mehr zu sehen.
Viele der Traumbilder entstanden in den frühen Münchner Jahren. Akademie- oder Englischer Garten, auch seine Wohnung an der Türkenstraße, in der die "Schrankbilder" entstanden, boten den Hintergrund. Menschen werden zu Fabelwesen, die sich mit der Natur vereinen, in ihr aufgehen. Haare verflechten sich scheinbar untrennbar mit Geäst zu einer Einheit, feengleich steigt eine Frauengestalt aus gefällten Baumstämmen empor. Auf den drei Aufnahmen der Reihe "Eifersucht" ist die Dritte schemenhaft immer dabei - glücklich ist niemand bei diesen bildgewordenen Gedanken und Gefühlen. So ganz anders im Abbild und doch nahtlos fügt sich die beeindruckende Portraitreihe der Dadaistin Hannah Höch hier ein.
Natürlich: Dass Neusüss auch ein Meister der Selbstinszenierung ist, offenbart der Komplex der konzeptualen Arbeiten. In Aktionen wie "Flugtraum", "Körperauflösungen" oder "Maßstabsobjekt" bildet er sich häufig selber ab. Ein Foto des Künstlers, das ihn mit weit ausgebreiteten Armen zeigt, fliegt, auf einem Drachen befestigt durch die Lüfte (Flugtraum, Kassel 1977), ein anderes Bild schmiegt sich über einen Stuhl, in einer Fotoinstallation der Reihe "Maßstabsobjekte" von 1974/1976 verzehnfacht er sich. Das stets ernste Gesicht sollte man nicht so ernst nehmen, auch wenn gerade die Bilder dieses Komplexes eine frühe medienkritische Auseinandersetzung mit der Allgegenwart von Fotografie darstellen.
Ironie kommt bei Neusüss nicht zu kurz. "Bei Floris lernt die Welt zu hüpfen und zu fliegen, und sein immer ernstes Gesicht soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich einen Jux auf die Schwere der Dinge macht," schreibt Michael Krüger im Prolog zu dem fulminanten Ausstellungskatalog, den die Kuratoren Fabian Knierim und Ulrich Pohlmann herausgegeben haben. Auf dem Bild "Figur im Raum" von 1976 wird das ganz deutlich: Der Künstler schwebt an der Decke eines leeren Raums. Bei den "Körperauslösungen" hört der Spass dann allerdings auf, denn die Fotografien zeigen lebensgroße Portraits des Künstlers, die durch Feuer, Wasser und Erde zerstört werden.
Die Schaufensterbilder runden den Eindruck ab. Es sind die einzigen Farbaufnahmen der Ausstellung, entstanden auf Reisen durch Deutschland und Frankreich. Kleine Supermärkte, ein Sarglager, aufgelassene Kneipen und anatomische Präparate in einem Laden in Paris sind zu sehen. Zuweilen ist das originell, entlarvend. Einen Schwerpunkt im Oevre des Künstlers stellen diese Bilder sicher nicht dar.
Die repräsentative Auswahl der Werke von Floris Neusüss ist wuchtig und leicht, expressionistisch und surreal, verstörend und erheiternd, immer überraschend. Wünsche, Träume, Fantasien, Innenwelten eben, werden nach außen getragen, werden Bild. Eine sehenswerte Schau.
Bis zum 14. Oktober 2012 im Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, täglich außer Mo 10-18 Uhr. Katalog bei Hatje Cantz 29,80 Euro.