Imogen Cunningham im Kunstfoyer
Ein Jahrhundertleben für Bilder
Sie besaß diese positive Form von Besessenheit, die sie bis ins hohe Alter Fotografie leben ließ. Nun widmet das Kunstfoyer der Versicherungskammer Bayern der Fotopionierin Imogen Cunningham eine große Ausstellung.
Wie der Herrgott sie geschaffen hatte auf dem Campus: Die 23-jährige Chemiestudentin Imogen Cunningham hatte gerade ihre erste Kamera, ein 4 x 5 Zoll Großformat, erhalten und lichtete sich nackt auf einer Wiese des Geländes der Universität von Washington liegend ab. Ein unerhörter, unerhört unschicklicher Vorgang zu der damaligen Zeit. Aber darum dürfte sich die junge Frau wenig geschert haben. Die Geschichte blieb folgenlos und war der Startschuss zu einer Karriere in der Fotografie, die mehr als 70 Jahre andauern sollte. Der 1906 entstandene Akt "Self Portrait" ist die älteste der in der Ausstellung gezeigten Fotografien.
In der Luft, im Sprung erstarrt scheinen die "Drei Tänzerinnen" auf dem 1929 am Mills College aufgenommene Foto. Synchron in Köperhaltung und Bewegung schweben die drei Grazien über dem Boden, auf den sie Schatten werfen, die an fliegende Kraniche erinnern. In gewisser Weise ist die Arbeit untypisch für die frühen Arbeiten der Fotografin. Portraits, Akte und Pflanzen bilden den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Die "Magnolienblüte" von 1925 wurde in der Klarheit der Darstellung und ihrem Detailreichtum zum Inbegriff sachlicher Pflanzenfotografie - allerdings mit unverhohlen erotischem Touch. Frei und bassgeigenhaft schön präsentiert sich der 1939 aufgenommene Rückenakt "Nude".
Imogen Cunningham wird 1883 in Portland, Oregon, als ältestes von zehn Kindern einer Patchwork-Familie geboren. Der Vater mit einem Hang zu dubiosen Gemeinschaften schleppt die Familie zunächst für einige Jahre in den US-Bundesstaat Washington, später nach Seattle. Nach der Highschool studiert die junge Frau von 1900 bis 1907 Chemie an der Universität von Washington - in diese Zeit fällt die Geschichte mit dem Akt - und fertigt nebenbei für das botanische Institut Diabelichtungen. Das wird später ihre Pflanzenfotografie beeinflussen. Sie lernt die Arbeiten der bekannten - heute fast vergessenen - Portraifotografin Gertrude Käsebier kennen und beschließt, selbst Fotografin zu werden. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums arbeitet Cunningham zwei Jahre lang im Portraitstudio des Fotografen Edward S. Curtis. Ihre Arbeiten orientieren zu zu dieser Zeit am romantischen Piktorismus.
Ein Stipendium der Technischen Hochschule verschlägt sie 1909 nach Dresden, damals führend im Bereich der fotografischen Chemie. Das in dieser Zeit entstandene Bild der Dresdner Frauenkirche ist in der Ausstellung zu sehen. Sie reist, lernt Paris, London und Amsterdam kennen und fotografiert. Zurück in den Staaten eröffnet sie in Seattle ein Fotostudio und etabliert sich als Portraitfotografin. 1931 erscheint ihre Serie über die Tänzerin Martha Graham in Vanity Fair, für die sie im Lauf der Zeit auch Hollywood-Stars wie Cary Grant - herrlich im völlig aufgerubbelten Wollpullover auf dem Foto von 1932 -, Spencer Tracy oder den US-Präsidenten Herbert Hoover und die Malerin Frieda Kahlo ablichtet.
Nach gescheiterter erster Ehe heiratet Imogen Cunnigham 1915 den US-amerikanischen Künstler Roi Patridge, der ihr mehrfach für Aktaufnahmen unter freiem Himmel Modell steht. 1917 zieht die Familie nach San Francisco. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder - Zwillinge - unterbricht die Fotografin ihre Arbeit , die sie erst 1921 wieder aufnimmt. Neben den Portraits konzentriert sie sich zunehmend auf die Pflanzenfotografie, in der sie grafische Konstruktionen aus Formen und Schatten schafft. 1932 gründet sie unter anderem mit Anselm Adams und Edward Weston die Gruppe f 6,4 - benannt nach der damals kleinstmöglichen Blendenzahl -, die für eine präzise definierte, kontrastreiche Sachlichkeit steht - eine Antwort auf die Neusachlichen wie Alfred Renger-Patzsch oder August Sander hierzulande.
Erst spät, in den 1940er Jahren widmet sie sich der Straßenfotografie. Es entstehen Aufnahmen wie "Tea at Forsters" von 1945, Selbstportraits als Spiegelungen in Schaufenstern, Fotografien von Passanten, Architekturaufnahmen. Bis ins hohe Alter fotografiert sie, nimmt sich neuer Themen an. Unzählige Ausstellungen in aller Welt bereitet sie vor. Bis kurz vor ihrem Tod am 23. Juni 1976 arbeitet sie an einer Reihe, die das Altern zum Thema hatte. Der Fotoband After Ninety erschien 1977 posthum.
Die Münchner Ausstellung ist die erste große Schau über Imogen Cunningham seit den 1990er Jahren. Mit rund 170 Arbeiten bietet sie eine beeindruckende Übersicht über das Schaffen der Künstlerin. Die Bilder übertragen den Enthusiasmus, der die Fotografin ein Leben lang angetrieben hat. In der Ausstellung ist ein Portrait der Fotografin zu sehen, dass sie mit 95 zeigt: Cool, verschmitzt und mit einer Gartenschere - leidenschaftliche Gärtnerin war sie auch - vor dem rechten Auge. Die "Schere im Kopf" symbolisiert das Bild sicherlich nicht. Denn die kannte Imogen Cunningham nicht.
Bis zum 28. April 2013 im Kunstfoyer der Versicherungskammer Bayern, Maximilianstraße 53 in München, täglich 9 bis 19 Uhr, an gesetzlichen Feiertagen geschlossen, Eintritt frei.