"Nike" und "Blitzbühne" in der AkademieGalerie
Bewusstsein und Erwartung - für wirklich jeden und alles
Sieben junge Menschen spielen am nasskalten Nachmittag des 4. Februar 2014 unter dem Siegestor zünftige Blasmusik. Die wenigen Besucher, die der Einladung zur Prozession gefolgt sind, sind unsicher: „Gehört das dazu?“ Die Frage lässt sich bald bejahen, denn vom Gebäude der Kunstakademie zieht ein halbes Dutzend Künstlerinnen mit Leiterwagen und Schubkarren heran, und das fröstelnde Publikum raunt: „Da kommt die Nike!“ Besser gesagt ihre Einzelteile, denn wie bald zu erkennen ist, wird die Siegesgöttin in Form von Gipsfragmenten angeliefert, hier ein mannshoher Flügel, da ein Teil des Gewandes, Holzlatten und Drähte. Eine gewisse Unsicherheit im Publikum bleibt dennoch bestehen, denn so recht lässt sich nicht entscheiden, ob die Künstlerinnen deshalb halb verlegen, halb lässig neben ihren Leiterwagen und Schubkarren unterm Siegestor verharren, weil ihnen das Konzept fehlt, oder ob Lässigkeit das Konzept ist.
Nach etlichen erwartungsvollen Minuten formiert sich aus den Karren und Wagen ein Zug und es beginnt die Prozession durch die Bögen des Siegestors, behutsam dirigiert von Professor Peter Otto und neuerlich begleitet von strammer Blasmusik. Während der drei Runden, die Nike absolviert, zeigt sich einzig auf dem Gesicht des Professors ein heiteres Lächeln. Die übrigen Künstlerinnen meiden den Blick ins Publikum und drapieren den roten Samt um die Gipsflügel neu. Die unerschrockenen Blasmusikanten liefern zum Glück ein Maß an Selbstironie zu der Aktion, so dass sich das Publikum entspannt und erste Gespräche aufkommen: „Ich hatte erwartet, dass bei so was mehr Leute kommen“, gesteht eine Dame. „Das ist es ja!“, entgegnet ihr zufälliger Nachbar. „Kaum dass man ein Bewusstsein entwickelt, hat man auch schon Erwartungen. Und so geht das dann weiter, das ganze Leben!“
Die Prozession überschreitet jetzt unter der unauffälligen Anleitung von Peter Otto die Ampelkreuzung in Richtung Akademiegalerie im Zwischengeschoß der U-Bahn-Station Universität. Ein paar Besucher müssen mit anpacken, um die großformatigen Gipsteile der Nike unbeschadet durch den Verkehr und treppab in den Galerieraum in der U-Bahn-Station zu tragen. Zwei von ihnen diskutieren unterdessen die mutmaßlichen logistischen Schwierigkeiten antiker Siegesprozessionen, bis die Strecke nach dreißig Metern endet und die Schubkarren unter unbeirrten Trompetenklängen – „Rosamunde, schenk mir dein Sparkassenbuch“ – abgeladen werden. Es dauert seine Zeit, bis sämtliche Flügel und Gewandteile auf rotem Samt vorläufig Ruhe finden. Wer dabei nicht hilft, nutzt die Gelegenheit, sich über die Bedeutung der fragmentierten Siegesgöttin Gedanken zu machen sowie über die Schädlichkeit von allzu konkreten Erwartungen an die Kunst. Ob nicht die Freiheit der Kunst letztlich darin besteht, dass sich jeder dazu denken kann, was er will? Gestützt wird dieser Verdacht einer Besucherin durch einen nicht leicht verständlichen Informationstext auf dem Plakat am Eingang der Akademiegalerie: Die soeben vollzogene Prozession eröffnet ein Kunstprojekt mit dem Titel Blitzbühne – „Für Jeden und Alles“. Was es damit auf sich hat und wie Jeder und Alles mit Nike zusammenhängen, bleibt vorerst offen.
Als die Blaskapelle verstummt und manch einer sich schon zum Gehen wenden will, spricht endlich jemand zum Publikum: Peter Otto bedankt sich bei den Musikern und bei den tatkräftigen Besuchern. Man werde die zerlegte Statue nun aufbauen, etwa anderthalb Stunden lang, und jeder könne helfen, Schrauben und Werkzeug lägen parat. Eine Erklärung, einen Hinweis auf das Warum und Weshalb der Aktion, auf die zu Grunde liegende Idee, den übergeordneten Rahmen bietet er damit zwar nicht, aber die Einladung gibt all jenen, die sich mangels Zeit oder handwerklichem Geschick verabschieden, das Gefühl, einer zwar rätselhaften und zuweilen etwas unbeholfenen, aber allemal liebenswerten Aktion beigewohnt zu haben.
Interessierte, so gibt Peter Otto mit auf den Weg, mögen sich um 20 Uhr wieder einfinden, zur Eröffnung der Blitzbühne mit dem Kunstvermittler Jochen Meister. Das lässt auf Beseitigung der verbliebenen Ratlosigkeit hoffen!
Am Abend steht die Nike vollständig in der Akademiegalerie. Aus dem Raum dringen robuste Beats ins Foyer der U-Bahn-Station, denn ein DJ hat den Part der Blaskapelle übernommen. Die Göttin in ihrem Gipsgewand wirkt spröde und etwas ramponiert, zumal jetzt klar wird, dass der Kopf der Statue fehlt. Eine strahlende Siegerin stellt man sich anders vor und damit scheint jetzt doch ein interessanter Aspekt des Ganzen auf, etwas, das der Aktion ein übergreifendes Thema verleihen könnte: Die Erschöpfung derjenigen, die für Siege zuständig sind, die um Siege angebetet werden und denen siegreiche Helden danken. Leider erweist sich dieser Gedanke als Fehlinterpretation, jedenfalls passt er schlecht zum zweiten Teil des Projekts, der nun anstehenden Eröffnung der Blitzbühne.
Die Gipsgöttin wurde inzwischen nicht nur montiert, sondern auch hellblau und rosa bemalt, hier und da findet sich auf ihren Flügeln ein kecker Lippenstiftabdruck oder ein Klebezettel mit einem Herzen und zwei Initialen darauf. Offensichtlich ist dies Blitzbühne und erste Kreative sind der Aufforderung der Künstlerinnen gefolgt, eine Nachricht oder ein Zeichen zu hinterlassen: Für jeden und alles! Nicht nur die Göttin, auch die Wände und Fenster der Galerie sind zu Trägern zahlreicher Zeichen und Botschaften geworden: Liebesherzen, Blumen, Pfeile ins Nichts, Männchen (auch obszöner Natur) sowie Sinnsprüche à la „Deine Göttin ist in dir. Hör ihr mal wieder zu“ oder „Jetzt. Sein. Bewusstsein“, ferner die Empfehlung „Gib mal bei Google ‚Aidslüge‘ ein!“ Es lässt sich eine Idee dabei erahnen, die Jochen Meister später auf den Punkt bringt: Die Siegesgöttin wird umgemünzt in eine Göttin der Liebe und als einen Akt der Liebe versteht er die Erweiterung und vielleicht Vervollständigung der Statue durch Farbe und Botschaften – fremde Gedanken statt eigener Kopf. Abermals scheint eine Idee auf, aus der sich künstlerisch etwas machen ließe: Nike nicht als Symbol des gewonnenen Krieges, sondern als Adressatin, vielleicht gar Vermittlerin von Liebesbotschaften, Krieg als Akt der Liebe oder die Liebe als Kampf. Die Hoffnung auf eine handfeste, nicht nur rosarote Intention wird zunichte bei der Ankündigung, dass ab dem 11. Februar 2014, rechtzeitig zum Valentinstag, alle Menschen ihre Botschaften per SMS an die Künstlerinnen senden dürften und diese dann an die Wand der Galerie projiziert werden – anonym, versteht sich.
Jochen Meister seinerseits unternimmt noch einen Versuch, an dem Projekt etwas Reibungspotential zu entdecken, irgendeinen Gedanken, der nicht offen zu tage liegt. Er spricht das Verhältnis der Künstlerinnen zu ihrem Publikum an, auf dessen Mitwirkung sie schon bei der Prozession gesetzt hätten und auf deren Kooperation sie angewiesen sind, damit auf der Blitzbühne auch tatsächlich Nachrichten auftauchen: „Vereinnahmt ihr die Menschen da draußen nicht auch?“ Schade, dass die Frage unbeantwortet bleibt, selbst als Meister sie wenig später ein zweites Mal stellt, schade überhaupt, dass sein Part auf wenige Minuten beschränkt blieb. Ein wirkliches Gespräch über Publikumsbeteiligung an der Kunst, über die Eignung von Kunstwerken als Medien für Kurznachrichten oder wenigstens über die Figur der Nike, ihre Bedeutung in der Antike und ihre Rolle im aktuellen Projekt wäre ein großer Gewinn gewesen für Besucher, denen gefühlsmäßige Einlassung nicht recht genügt und die Beliebigkeit befürchten, wo Zusammenhänge allzu schwer auszumachen sind. Gedanklich halbfertig und daher in gewisser Weise kopflos wie die Nike selbst erscheint das Projekt Blitzbühne. Warum sollte irgendwer irgendeine Nachricht ausgerechnet auf der Nike in einer U-Bahn-Station hinterlassen wollen? Gibt es nicht Plattformen noch und noch, auf denen wir uns äußern können und Kurznachrichten senden, für jeden und alles? Vielleicht gelingt es den künftigen Besuchern, dem Projekt durch ihre Botschaften an und um die Nike einen doppelten Boden zu verleihen, eine ironische Wendung, einen Gedanken, der nicht beliebig oder abgenutzt klingt.
Anne Mazuga
Nike und Blitzbühne sind noch bis 18. Februar 2014 in der AkademieGalerie zu erleben. Nachrichten können zu den Öffnungszeiten der Galerie (Mo-Fr 16-20 Uhr) hinterlassen werden, ab dem 11. Februar auch per SMS unter 0176/8162551.