Zum Filmstart von "Still Alice" mit Julianne Moore
Schmerzhaft leiser Kontrollverlust
Die Darstellung von charismatischen Frauenfiguren, denen das eigene Schicksal in die Quere kommt, ist Julianne Moores Spezialität. Bereits fünfmal war sie als Haupt- und Nebendarstellerin für den Oscar nominiert. Dieses Jahr hat sie ihn nun endlich bekommen: für die Hauptrolle in Richard Glatzers und Wash Westmoorelands "Still Alice". Der Film erzählt auf beeindruckend vielschichtige und realistische Weise die Geschichte einer Frau, die an einer seltenen Form von vererbbarem Alzheimer erkrankt ist.
Alice ist Linguistik-Professorin an der Columbia Universität in New York. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist glücklich mit ihrem Mann John verheiratet, der ebenfalls an der Columbia arbeitet. Zu Alices 50. Geburtstag sind Kinder und Eltern in einem schicken New Yorker Restaurant versammelt: eine erfolgreiche Akademikerfamilie, in der trotz kleinerer Reibereien im Großen und Ganzen alles gut funktioniert.
Als Alice wegen auffälliger Gedächtnislücken zum ersten Mal zum Arzt geht, informiert sie ihren Mann und ihre Kinder nicht. Sie ist eine strahlende, starke Frau, die es gewohnt ist, Probleme eigenständig zu lösen und in deren Selbstbild Schwäche nicht vorkommt. Zunächst gelingt es ihr auch, die Kontrolle über die Auswirkungen der Krankheit zu behalten. Kontinuierlich spielt sie selbst erdachte Gedächtnisspiele. In ihrem Handy speichert sie verschiedene Fragen und die zugehörigen Antworten aus allen möglichen Lebensbereichen, um das Funktionieren ihres Gehirns immer wieder zu überprüfen.
Man ist fasziniert von der Disziplin und der Kreativität dieser Linguistin im Kampf gegen den Verlust der Sprache. Umso berührender und aufwühlender sind die Momente, in denen sie dann doch die Kontrolle verliert. Wenn sie sich zum ersten Mal auf ihrer gewohnten Joggingrunde verläuft und einfach nicht mehr weiß, in welcher Richtung es weitergehen soll, ist der verzweifelte Ausdruck in ihren geröteten Augen herzzerreißend. Die Frau, die man in diesem Moment auf der Leinwand sieht, wirkt um Jahre gealtert. Und wenn Alice zum ersten Mal in einer Vorlesung vor ihren Studenten steht und auf ihrem Laptop beim besten Willen das Material zur Vorlesung nicht finden kann, dann möchte man sie am liebsten in den Arm nehmen und ihr beim Suchen helfen. Noch schlimmer wird es, wenn sie in ihrem eigenen Haus die Toilette nicht mehr findet und panisch eine Schranktür nach der anderen öffnet.
Die stark subjektive Erzählweise ist eine der großen Stärke dieses Films. Man erlebt die verrinnende Zeit, wie Alice sie erlebt, mal quälend langsam, mal überfordernd schnell. Alices Scham und ihre Erschöpfung werden fast körperlich spürbar.
Bezeichnenderweise reagiert Alices Ehemann John (Alec Baldwin) auf die Krankheit zunächst mehr mit Verleugnung als mit Akzeptanz: Er ist eine starke, eigenständige und erfolgreiche Frau an seiner Seite gewohnt. Wie eine Erlösung wirken da die Szenen in Alices und Johns Ferienhaus auf Long Island. Endlich gibt es im Leben dieser beiden Menschen Raum für Ruhe und Zweisamkeit. Gemeinsam am Strand, nah beieinander, sich fest umarmend, erscheinen Alice und John als harmonierendes Paar, das voll von Liebe und wechselseitiger Bewunderung gemeinsam durch dick und dünn geht.
Doch wie Alice ist auch John ein ehrgeiziger, karriereorientierter Mensch. Statt im Wissen um das Fortschreiten der Krankheit möglichst viel Zeit mit seiner Frau zu verbringen, trägt er sich mit dem Gedanken an einen arbeitsintensiven Wechsel von der Universität in die Industrie.
Diejenige, die bis zum Ende echte Nähe zu Alice zulässt, ist ausgerechnet ihre jüngste Tochter Lydia, die vor der Krankheit ein angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Kristen Stewart überzeugt in der Rolle der aus der Art geschlagenen Tochter, die sich als Einzige in der Familie standhaft gegen eine akademische Laufbahn gewehrt hat. Genau diese Distanz zum akademischen Umfeld scheint es Lydia zu erleichtern, die neue Alice, die keine erfolgreiche Akademikerin mehr ist, zu akzeptieren und liebevoll aufzunehmen.
Bedingungslose Liebe erscheint am Ende als einzig möglicher Weg, mit den erniedrigenden und hoffnungsraubenden Folgen der Krankheit umzugehen. So trivial diese Botschaft anderswo wirken mag, so kraftvoll manifestiert sie sich in diesem Film. "Still Alice" ist ein Meilenstein im kulturellen Diskurs über unheilbare Krankheiten. Richard Glatzer und Wash Westmooreland verschweigen nichts und reden nichts schön. Sie zeigen die Krankheit in ihrer ganzen Hässlichkeit - in einem wunderschönen, poetischen und gewinnbringenden Film.
"Still Alice - Mein Leben ohne gestern", Drama, USA 2014, 99 Minuten, Regie: Richard Glatzer und Wash Westmooreland, Darsteller: Julianne Moore, Kristen Stewart, Alec Baldwin, Kate Bosworth, Hunter Parrish u.a., Verleih: Polyband Medien GmbH.