Das Bayerische Nationalmuseum zeigt exquisite Bronzekunst um 1600
Ansehnlicher Wahnsinn unterm Schutzmantel der Mythologie
Merkur, Hubert Gerhard (1590/93) Bayerisches Nationalmuseum München, Leihgabe von Siemens Kunststiftung
Man sieht ihn schon fliegen. Ohne jede Mühe geht der nackte Jüngling in die Lüfte. Dynamisch, aber zugleich so unfassbar elegant, dass man regelrecht verblüfft ist. Die Medici wussten schon, wie man Handelspartner, Fürsten und selbst Kaiser beeindruckt. Und gnadenlos betört. Denn alle wollten sie einen solchen Merkur haben. Kein anderes Werk des Florentiner Starbildhauers Giovanni Bologna (Giambologna), kaum eine Skulptur überhaupt wurde so oft kopiert, variiert, weiter gespielt. (Bitte hierzu aktuelle Anmerkungen 1+2 am Ende des Textes beachten.)
Man kann das leicht nachvollziehen, wenn sich im Bayerischen Nationalmuseum die mächtige Ausstellungstür im obersten Stockwerk öffnet und plötzlich dieses grazile, bronzene Prachtexemplar vor einem steht. Übrigens: Das Original (hierzu gilt ebenso Anmerkung 1 am Ende des Textes), das den Bargello eigentlich nicht verlassen darf. Aber jetzt, da es eine so illustre Gesellschaft von rund 80 hochkarätigen Bronzeskulpturen des späten 16. Jahrhunderts aus Paris, New York oder Los Angeles (Getty Museum) anführt, lässt man in Florenz Großmut walten. Denn in Bayern und vor allem in München und Augsburg fand der Siegeszug Giambolognas durch seine virtuosen Schüler Hubert Gerhard und Adriaen de Vries (aus den Niederlanden) und in der Folge Hans Reichle oder Hans Krumpper eine außergewöhnliche Fortführung.
Die ist in München an bald jeder Ecke anzutreffen. Von der schlanken Madonna, die auf ihrer Säule überm Marienplatz thront bis zu den Löwen vor der Residenz oder – auch ein typischer Gerhard – dem Weihwasserengel in der Michaelskirche. Zu verdanken ist das einem bayerischen Herzog, der den Künsten mehr als nur zugetan war: Wilhelm V. kleckerte nicht, er klotzte auf feinstem Niveau. Schon im Anwärterstadium, das er mit seiner Gemahlin Renata von Lothringen in Landshut verbrachte, ließ er die Trausnitz ordentlich aufmöbeln. Was angesagt und luxuriös war, musste auf die Burg, sogar ein neuer Trakt wurde von Florentiner Künstlern gebaut, ausgemalt und stuckiert. Bruder Ferdinand erwies sich da als idealer Trendscout, weil er im Gegensatz zu Wilhelm reisen durfte. 1565 hatte er an einer spektakulären Medici-Hochzeit (Francesco und Johanna von Österreich) teilgenommen und war wie so viele mit dem neuen Dekorations- und speziell dem Giambologna-Virus infiziert worden.
Der Italiener ließ sich nicht ins Ausland locken, also riss sich der Hochadel Europas um seine bestens ausgebildeten Mitarbeiter. Genauso die Finanziers dieser Höfe. Wilhelm V. hatte sich schnell verschuldet mit seinen hochtrabenden Projekten, in München plante der Herzog gleich fürstlich weiter. Und weil das Geld dauernd ausging, war sein Freund und Bankier Hans Fugger gefragt. Der spielte selbst mit im „Größer-schöner-mehr“ – etwa mit seinem Schloss in Kirchheim (Unterallgäu).
Nessus und Deianeira, Giambologna Florenz um 1600, Bronze. Foto: Maggie Nimkin C: Collection of Mr and Mrs J Tomilson Hill, NY, courtesy of Patricia Wengraf Ltd
Von dort stammt auch das überdimensionale Tête-à-Tête von Mars und Venus (1590), das seit den Anfängen des Nationalmuseums, Mitte des 19. Jahrhunderts zu dessen Höhepunkten gehört und nun mit wachspolierter Oberfläche einen neuen Auftritt im gleichnamigen Saal genießt. Solche Verschränkung, solche hocherotischen Übergriffe musste man sich schon trauen. Aber unterm Schutzmantel der Mythologie war so ziemlich alles möglich. Man kann das erst recht an den kleineren Objekten aus den Kunstkammern verfolgen: Giambologna bringt einen Satyr in gefährliche Nähe zu einer Schlafenden – über der Scham liegt nur deren mattes Händchen. Und lustgeraubte Sabinerinnen sind eh an der Tagesordnung. Das Thema verführt eben auch zum attraktiven Kampf in einer nach oben drängenden Spiralanordnung nackter Leiber, die durch die glatte Bronze wie eingeölt wirken und ein delikates Lichtsspiel befördern (Susine nach Giambologna, 1610, oder Herkules Nessus und Deianeira von Hubert Gerhard, 1604/05).
Doch was Staatsgäste blenden konnte, war erst recht ein Instrument für die Kirche, die den Protestanten die allerschönste Stirn bieten wollte, und für imposante Grabmäler. Nach dem Ausbau der Residenz mit prächtigen Grotten und Brunnen voll komplizierter wasserspritzender Bronzen (das ist in der Ausstellung erhellend aufgefächert), sann Wilhelm nach einer letzte Ruhestätte, mit der die bayerischer Herrscherherrlichkeit ihre postmortale Krönung finden sollte. Allein, die Kassen waren leer, sein Sohn und Nachfolger Maximilian I. stoppte 1598 den ansehnlichen Wahnsinn. Doch für gute Arbeit gibt es immer Verwendung. Gerhards Werke sind (im Außenraum in Kopie) in München gut untergekommen und „Transportableres“ glänzt längst in den wichtigen Skulpturensammlungen der Welt.
„Bella Figura“, bis 25. Mai 2015. Di bis So 10 bis 18 Uhr, außer Do bis 20 Uhr. Katalog (Hirmer) 44,50 Euro, kostenfreie App über App Store und Google play.
Anm.d.Red. 1 (25.3.15, 15.20 Uhr): Wie der Redaktion erst jetzt bekannt wird, ist der eingangs beschriebene "echte" Giambologna-Merkur bereits wieder aus der Sammlung genommen worden. An seiner Stelle steht dort nun eine Kopie. Wir bedauern, dass dies nicht sofort kommuniziert worden war.
Anm.d. Red. 2 (29.3.15, 22.45 Uhr): Wenn der Wurm erst mal drin ist... Auch die Anmerkung 1 muss noch einmal korrigiert werden. Wie sich herausstellt, steht in der Ausstellung inzwischen weder das Merkur-Original noch eine Kopie. Das ist schade, aber sie ist auch so noch sehenswert.