„Kykladen. Frühe Kunst der Ägäis“ in der Archäologischen Staatssammlung
Als die Moderne noch vor der Klassik erfunden wurde
Weibliches Kykladenidol im sogenannten Kapsala-Typus. Foto: Staatliche Antikensammlung / Renate Kühling
Azurblau leuchtet das Meer vor der felsigen Küste. Urlaubsstimmung macht sich breit, erst recht, wenn man dazu Namen wie Melos, Thera, Naxos oder Mykonos liest. Mit diesem überdimensionalen Ferienprospekt könnte man die Kykladen problemlos auf einer Reisemesse promoten. Hinterm Englischen Garten, in der Archäologischen Staatssammlung, vermitteln das Megaposter und der Landkarten-Teppich auf dem Fußboden noch etwas anderes: Dieser Teil der Ägäis war auch für die Menschen vor weit über 5000 Jahren so attraktiv, dass sie sich gerne auf den kleinen Inseln niederließen.
Und es braucht im Grunde nur eine Handvoll Exponate, um den Reichtum der Kykladen-Kultur im dritten Jahrtausend vor Christus zu demonstrieren. Ein Steingefäß in der Form eines geschmackvoll ornamentierten Tempelhofs von der Insel Melos – vermutlich diente das schöne Stück mit seinen runden Fächern zur Aufbewahrung von Schmuck oder Kosmetik. Dazu einfaches, aber sorgfältig hergestelltes Werkzeug oder sagenhaft dünnwandige, durchsichtige Marmorschalen. Und schließlich das Wichtigste: die ebenfalls aus dem Marmor der Inseln gefertigten Idole, also puppengroße Skulpturen, die auf dem Kunstmarkt längst Rekordpreise einspielen.
Spektakulär war vor vier Jahren eine Auktion bei Christie’s in New York, auf der ein außergewöhnliches Idol aus einer Schweizer Privatsammlung für fast 17 Millionen Dollar den Besitzer wechselte. Die Dame wies ein Schwangerschaftsbäuchlein auf, aber selbst „Normalware“ liegt schon im sechsstelligen Bereich. Verständlich, dass die Griechen immer wieder auf Restitution pochen. Das Badische Landesmuseum Karlsruhe, von dem die Kykladen-Schau übernommen wurde, hatte erst letztes Jahr ein weibliches Idol ans Archäologische Nationalmuseum Athen zurückgegeben.
Dabei stießen die rätselhaften Kultobjekte bei ihrer Entdeckung im frühen 19. Jahrhundert keineswegs auf Begeisterung. Sie entsprachen halt so gar nicht dem damaligen Kunstgeschmack, der vom Klassizismus geprägt war. Man kann sich das kaum mehr vorstellen. Doch unser heutiger, durch die Abstraktionstendenzen des frühen 20. Jahrhunderts völlig veränderter Blick goutiert diese Figürchen vor allem in ihrer grandiosen Reduktion. Man meint typische Max-Ernst-Gesichter zu sehen - etwa aus dem Großen Fries oder die Schachfiguren – und mehr noch die Arbeiten von Constantin Brâncusi und Hans Arp.
Neben afrikanischer oder ozeanischer Kunst sammelten Avantgarde-Heroen wie Pablo Picasso, Arp und später Henry Moore tatsächlich auch Idole der Kykladen. Die Talismane – 80 Prozent sind weiblich, die männlichen Exemplare dürfen die Damen tragen oder für sie musizieren – überraschen durch ihre Stilsicherheit und prägnanten Formen. Wobei die Spezialisten mehrere Typen unterscheiden: etwa den rundlichen Spedos-Typus mit seinem lyraförmigen, oft auch dreieckigen Kopf oder den geradezu eleganten Kapsala-Typus – beide übrigens mit übereinander gelegten Armen. Und immer besticht das Changieren zwischen Abstraktion und Realismus.
Die Kykladen-Idole waren übrigens bemalt, und dabei fallen Punkte im Gesichtsbereich oder gedoppelte und verdreifachte Augen besonders auf, was die kultische Verwendung noch einmal unterstreicht. Man darf an Voodoo-artige Einsätze denken, aber auch an Ikonen, beziehungsweise Heiligenbilder, die als Vermittler dienten. Und man darf die Fantasie spielen lassen, denn aus dieser Zeit des Übergangs von der Stein- zur Bronzezeit sind keine Schriftzeugnisse überliefert.
Aber es gab kunstvolle Stempel, und so manches hatte in der Ägäis Europa-Premiere. Erstmals wurden Töpferscheiben eingesetzt. Die hohe Kunstfertigkeit etwa bei der Ausführung der Marmorschalen spricht für die wohl erste arbeitsteilige Gesellschaft. Zum ersten Mal wurden Werkzeug und Waffen aus Bronze gefertigt.
Und wahrscheinlich hatten die Frauen das Sagen in dieser Zeit des Umbruchs und der Blüte. Aber das konnte natürlich nicht so bleiben in diesem Paradies mit fruchtbaren Böden, besten klimatischen Bedingungen und wunderbaren Bodenschätzen.
Archäologische Staatssammlung, Lerchenfeldstraße 2. „Kykladen. Frühe Kunst der Ägäis“ bis 7. Juli 2015, Di bis So 9.30 bis 17 Uhr.