Karl Stankiewitz über "Münchner Kunst nach 1945" im Lenbachhaus
Warum so lange gewartet wurde, bis sich eine "SPUR" fand
Installationsansicht "So ein Ding muss ich auch haben", Gruppe SPUR, Spur-Bau, 1963. Städtische Galerie Lenbachhaus und Kunstbau, München. Foto: Lenbachhaus
Vor siebzig Jahren hat bekanntlich alles neu begonnen. Auch die Kunst. Eine Herausforderung für München, das jetzt nicht länger „Hauptstadt der Bewegung“ sein musste, sondern sich auf seinen gut fünfzig Jahre alten Ruf als „Kunststadt“ berufen konnte. Doch die Verhältnisse, die waren dieser nutz- und brotlosen Muse zunächst nicht sonderlich zuträglich. Zu viele andere, wichtigere, schwierigere Aufbauarbeiten waren vordringlich. Und Abstraktes war man schon überhaupt nicht gewöhnt. Für Ausstellungen fehlten noch lange nach der Stunde Null, dem 1. Mai 1945, alle Voraussetzungen, vor allem Räumlichkeiten. Erst allmählich erwachten, nach den rudimentären Theatern und Konzertsälen, die Kunstmuseen aus dem Tiefschlaf, aus dem Tiefschlag des Krieges. Nachdem sich einige Privatgalerien vorgewagt hatten, ging auch die städtische Galerie an der Luisenstraße an den Neustart. 1947 fand sich im fast unversehrten Nordflügel endlich Platz für eine Gegenwartsschau.
Jetzt, sieben Jahrzehnte danach und zwei Jahre nach dem großen Umbau, hat das längst zum Lenbachhaus umbenannte, längst international renommierte Museum die „Münchner Kunst nach 1945“ neu entdeckt. In einer eigenen Abteilung soll sie fortan durch alle zwei Jahre wechselnde Werke beispielhaft präsentiert werden. Was waren wohl die Gründe für die lange Verzögerung?
Eigentlich hatte die Stadtresidenz des Münchner „Malerfürsten“ Franz von Lenbach eine besondere Pflicht zur Wiedergutmachung. 1934 war der „Blutordensträger“ und Kunstkritiker des „Völkischen Beobachters“, Franz Hofmann, zum Leiter dieser Städtischen Galerie ernannt worden. Um „der Entfremdung zwischen Künstler und Volk entgegenzutreten“, ließ er das Haus von allen bedeutenden modernen Malern „säubern“. Sein Eifer trug ihm so viel Lob ein, dass ihn Goebbels in sein Propagandaministerium berief. Zusammen mit dem Maler Adolf Ziegler und anderen Willfährigen ließ er dann etwa 5000 Gemälde und 12.000 Grafiken aus den deutschen Museen entfernen. Sogar aus den Amtsräumen der Stadt München plünderte er 170 Bilder. Aus einem Teil des Raubgutes entstand 1937 die Wanderausstellung „Entartete Kunst“.
Schließlich wurde Hofmann noch Geschäftsführer einer „Verwertungskommission“. Durch sie gelangten wertvollste Werke der Moderne ins Ausland oder in den Besitz brauner Bonzen. Die Barbarei des Reichenhaller Hotelier-Sohnes Hofmann gipfelte in dem Vorschlag, "den Rest in einer symbolischen propagandistischen Handlung auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen". Tatsächlich wurde der „unverwertbare Bestand“ – 3825 Aquarelle und Zeichnungen - am 20. März 1939 im Hof der Berliner Feuerwache eingeäschert. Hofmann: "Ich erbiete mich, eine entsprechende gepfefferte Leichenrede dazu zu halten."
Nach dem großen Weltbrand war der 60jährige Arthur Rümann, dessen Vater die Löwen vor der Feldherrnhalle geschaffen hat, zum Galeriedirektor ernannt worden. Er stellte sich der inzwischen nachgewachsenen, vom Gegenständlichen abrückenden Künstlergeneration gegenüber auf den „verantwortungsbewussten Standpunkt des Abwartens, der Distanzgewinnung“. Sammeln wollte er davon nichts, das möge später einem „Klügeren“ vergönnt sein. Immerhin suchte er nach verschollenen Werken aus den von seinem Nazi-Vorgänger „gesäuberten“ Beständen und konnte auch einige zurückkaufen, so die 1934 ausgesonderte „Auferstehung“ von Karl Caspar.
In einer kunstpolitisch wie fiskalisch noch labilen Situation wagte es Rümann sogar, eine Künstlervereinigung einzuladen, die als erste nach dem Krieg gegründet und von der Militärregierung lizenziert wurde, die aber in ihrer Vorstellung keineswegs dem auf Münchner Malerei des 19. Jahrhunderts fokussierten Konzept des Hauses entsprach. Sie firmierte ausgesprochen schlicht als „Neue Gruppe“. Die Gründungsmitglieder standen für eine offene, progressive Entwicklung der Malerei und Bildhauerei. Bei der ersten Präsentation ging es weniger um eine Selbstdarstellung als um eine Rehabilitierung jener Künstler, die vor 1933 eine Rolle im deutschen Kunstgeschehen gespielt hatten und dann der nazistischen Verfolgung ausgesetzt waren.
So erlebte München ein Wiedersehen mit Rupprecht Geiger, Max Ackermann, Ernst Barlach, Willi Baumeister, Otto Dix, Edgar Ende, George Grosz, Alfred Kubin, Karl Röhrig und Fritz Wrampe, die meist ihre Arbeiten jahrelang versteckt hatten. Einige der ausgestellten Bilder - und darauf legt das Auswahlgremium besonderen Wert - veranschaulichten die Schrecken der jüngsten Vergangenheit und die Probleme der Nachkriegszeit. Ergreifend die Zeichnung „Nie wieder Krieg!“ von Käthe Kollwitz, die am Ende des Krieges verstorben war. Die zerstörte „Hauptstadt der Bewegung“ war das Leitthema. Julius Hüther zeigte ein „Trümmerfeld“, Gerhard Reitz die Ruine der Mariahilfkirche. Auch von Werner Gilles und Siegfried Kühnel hingen Trümmerbilder an der Wand.
Damit war die Präsentation zeitgenössischer Münchner Kunst im Kunsttempel der Stadt allerdings schon wieder beendet. Die Neue Gruppe und weitere Künstlervereinigungen wanderten alljährlich ins Haus der Kunst, das sich durch rauschende Faschingsfeste finanzierte. Auch private Galerien (Franke, van de Loo, Malura, Lea, Stangl) widmeten sich mutig der heimischen Avantgarde. Das Lenbachhaus blickte lieber zurück, etwa auf die 1893 gegründete „Münchener Sezession“ und natürlich auf die Klassische Moderne. 1949 plante man zwar eine Retrospektive des Blauen Reiter, doch der Stadt fehlten dafür nach der Währungsreform plötzlich die Mittel (für ihre Bühnen hatte sie dennoch mehr als eine halbe Million neue Deutschmark übrig).
Was für ein Glück, dass die in Murnau lebende Gabriele Münter kurz vor ihrem 80. Geburtstag im Jahr 1957 ihrer Heimatstadt München das gesamte Frühwerk ihres Lebensgefährten Wassily Kandinskys schenkte: Nicht weniger als 444 Katalognummern konnte der neue Galeriedirektor Hans Konrad Roethel verzeichnen und alsbald ausstellen. Als das Lenbachhaus 1965 erstmals die raumfüllende Installation „Zeige deine Wunde“ von Joseph Beuys präsentierte, gelang dies nur in Zusammenarbeit mit der Galerie Klüser.
Einen neuen Raum für „aktuelle Positionen“ stellten Galeriedirektor Michael Petzet und sein junger Kurator Armin Zweite 1971 in der Unterführung der Maximilianstraße vor; der düstere Ort wird seither immer wieder mal für derlei Zwecke genutzt - und vom Publikum nie angenommen. Mit beträchtlichem Erfolg entwickelten Zweite und sein Nachfolger Helmut Friedel die feudalistische Lenbach-Villa nach und nach jedenfalls zu einem Sammel- und Präsentierplatz für zeitgenössische internationale Kunst. Kaum ein Star der Szene und kaum eine wichtige Stilrichtung fehlten seither im Ausstellungs-Potpourri, ganz abgesehen von Retrospektiven und weiteren großen Schenkungen.
Kaum Platz blieb bei alledem für die eigentlich regionale Kunst seit 1945. Von Stund' an aber will der neue Hausherr Matthias Mühling „die Münchner Malereigeschichte von der Nachkriegszeit bis in die unmittelbare Gegenwart“ durch maßgebliche Beispiele ausstellen. Auch werden schon seit geraumer Zeit – unterstützt durch die Stiftung eines nicht genannten Ehepaares - Arbeiten von Künstlern aller Generationen angekauft, „deren Produktionsstandort dauerhaft oder temporär in München liegt oder deren Karriere in München begonnen hat“.
Schwerpunkt der Neupräsentation ist die Gruppe SPUR, von der das Lenbachhaus wichtige Sammlungsteile besitzt. Verfolgt man die Spur dieser bahnbrechenden Künstlergruppe, dann stößt man allerdings auf viele Förderer, nur nicht auf das Lenbachhaus. Erstmals war sie am 2. September 1958 in Erscheinung getreten: bei Oswald Malura. Und eine große Rückschau wurde den – von Experten verkannten - „Malern der Zukunft“ zuletzt 2006 in einer anderen städtischen Kunstinstitution gewidmet, mit Filmprogramm, Vorträgen und einem großartigen Katalog: in der Villa Stuck.
Immerhin waren die SPUR-Leute einst, worauf Mühling stolz hinwies, einer künstlerischen Spur in der Luisenstraße gefolgt, sie pilgerten nach eigener Aussage zum „heiligen Wassily“ (Kandinsky). Und immerhin hatte man in der Lenbachvilla für die Stuckvilla mit großem Aufwand den grazilen „SPUR-Bau“ rekonstruiert, der jetzt dort als Solitär Münchner Kunstschaffens präsentiert wird. An dem Gebilde waren fast alle Mitglieder der Gruppe beteiligt. Sie sind alle gestorben, bis auf den Mitgründer und baldigen Dissidenten Erwin Eisch, inzwischen 87jähriger Vater des Glaskunstmuseums in Frauenau. Auch anderen SPUR-Leute haben ihre Heimatorte eigene Museen eingerichtet: für Helmut Sturm in Cham, für Lothar Fischer im oberpfälzischen Neumarkt.
Umso erfreulicher, dass jetzt auch das wichtigste Kunstmuseum der Kunststadt München eben diese SPUR würdigt, übrigens nicht nur durch große Formate an der Wand, sondern auch durch eine Sammlung jener lesenswerten Manifeste, die in den prä-revolutionären Sechzigerjahren so manche Politiker, Kunstkritiker und Staatsanwälte arg herausgefordert hatten. „Wer Kultur will, muss Kunst zerstören“, hieß es beispielsweise in einem Flugblatt. Und in einem anderen: „So wie Marx aus der Wissenschaft eine Revolution abgeleitet hat, leiten wir aus der Gaudi eine Revolution ab.“
Ein Teil des Textes ist dem Buch “Die befreite Muse – Münchner Kunstszenen ab 1945” von Karl Stankiewitz entnommen, erschienen im Volk-Verlag.