Karl Stankiewitz schaut zurück auf 50 Jahre Olympische Spiele, Teil V
Kunst und Propheten - der heitere Frühling von 1972
Heiterkeit - ein Spiel. Zwischen die „Jugend der Welt“, die mit diesem feierlichen Traditionswort für 1972 nach München gerufen wurde, mischen sich massenhaft Besucher, die so richtig in das offizielle Erscheinungsbild der „heiteren Spiele“ passen. Sie kommen aus allen Winkeln des Erdballs, auffallend viele aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Kalifornien. Mit dem Frühling, lange vor der Eröffnung des Sportspektakels im August, sind sie angereist.
Der Englische Garten und das neue Fußgängerparadies sind fest in der Hand fröhlicher Hippies, berichtet der Reporter aus dem „modernen Babylon“. Wandervögel, Globetrotter und Adabeis schlagen mitten in der Millionenstadt buchstäblich ihre Zelte auf. Missionare und Politagenten scharen schnell neugierige Münchner um sich. Menschenfischer und fremde Götter sind angereist, um ihre Lehren zu verkünden. Vieles klingt querdenkerisch, manches revolutionär, einiges auch fanatisch. Besonders aktiv sind die Abgesandten des internationalen „Jesus People“. Die Jesus-Jünger verteilen Comics, singen Choräle und veranstalten im Problemviertel Hasenbergl sogar ein ganztägiges Festival. Die frisch gepflasterte City wird so zum Jahrmarkt eigenartiger Religionen und wilder Ideen. Kahl geschorene, in rötliche Tücher gehüllte Jünglinge und Mädchen bitten mit monotonem „Hare-Krischnan“-Gemurmel um milde Gaben. Manche Gruppen erwecken den Anschein, zum offiziellen Kulturprogramms zu gehören. Als lebende Litfaßsäulen wandeln religiöse Einzelkämpfer und selbsternannte Propheten durch die kunterbunte Olympiastadt. Aus Indien flog sogar ein leibhaftiger Gott ein, der 14-jährige Bai Jogesware Shri Sant di Maharai. Aus Taiwan mischte sich eine militante Sing-out-Gruppe ins kirchliche Weltkonzert. Aus Kabul wurde die Kopie eines berühmten Teehauses eingeflogen und vor der katholischen Josefskirche aufgestellt. In einem Großkino laufen „wissenschaftliche Predigtfilme“ in fünf Weltsprachen, die beispielsweise einen sprechenden Fisch vorführen.
So kommt es, dass sich von München aus weit in die Siebzigerjahre hinein ein ganzes Spektrum sogenannter Jugendreligionen ausbreitet, zum Leidwesen der christlichen Kirchen, die bald Abwehrstrategien entwickeln. Indes schwappt aus den Sechzigerjahren noch eine andere Subkultur herüber: das Happening, eine Darstellungsform des Außergewöhnlichen, Schockierenden, Komischen, Absurden. Derartige Elemente finden sich nun auch im Sammelsurium zur Vorbereitung der ausdrücklich als „heiter“ propagandierten Münchner Sommerspiele.
Obendrein wird viel Lokalkolorit in die Ideenpalette gerührt. München will der Welt seine Eigentümlichkeiten vorzeigen. Doch jedes Olympia bietet eine willkommene Nebenarena für Künstler, Komiker, Tüftler, Gaukler Sektierer und Gschaftlhuber. Bestes Beispiel für das Bemühen, der Welt ein solches Mischmasch „typisch Münchner“ Verspieltheit zu präsentieren, ist das Projekt „Spielstraße“. Für viele Olympia-Planer das Lieblingskind, für andere ein Problem. Denn auf dieser Spaßmeile zwischen dem aufgestauten See und dem frisch begrünten Hügel aus Kriegsschutt, ein Bestandteil des Kulturprogramms, sollte exemplarisch dargeboten werden, was das Motto der „heiteren Spiele“ meinte. Dies gelingt durch eine ungewöhnliche Performance von unterschiedlichen Elementen.
Im offiziellen Olympia-Führer liest es sich so: Straßen-, Pantomimen-, Puppen- und Marionettentheater, Audiovision, Multimedia, Mitspielmöglichkeiten des Publikums, Musik, Tanz und Folklore, Theatron mit Seebühne, Buden-Halbinsel, Show-Terrassen, Medienstraße, Multivisionszentrum. Diese Spielstraße wurde von dem Essener Theaterarchitekten Werner Ruhnau als „Oktoberfest des elektronischen Zeitalters“ konzipiert und von einem 18-köpfigen Workshop für 2,6 Millionen Mark realisiert. Aus dem Programm gestrichen wurde wieder der Bereich Pop- und Beatmusik, für den sich schon Stars wie Frank Zappa und die Rolling Stones gemeldet hatten. Die Gutachter einer Schall- und Wärmeschutzkommission empfahlen nämlich sanftere Töne, und so will man sich jetzt mit Experimentaljazz aus Polen, Sitarmusik aus Indien und antillischen Rhythmen begnügen. Die OK-Bosse hatten auch befürchtet, das olympische Gaudizentrum könnte zu einem riesigen, unkontrollierten Popfestival werden. Man rechnet immerhin mit 80.000 bis 100.000 ständig anwesenden Besuchern.
220 Künstler sollen auf der 200 Meter langen Spielstraße für 50 DM Tagesgage aktiv werden und den Sport ironisieren. Der Kölner Clown Rodda turnt am Reck, Herbert Somplatzki (Essen) übt »progressives Kunsttraining«, Roy Adzak (London) formt in einer der 55 Buden Eindrücke von Sportobjekten so, dass die Negativform das Kunstwerk ist, Saskia de Boer (Holland) visualisiert und bekleidet Sportlerporträts aus Latex, Tetsumi Kudo (Japan) schmückt Siegerpodeste mit Pflanzen und Symbolen, Fritz Schwegler (Ehingen) will die Ergebnisse des Tages mit Gesängen und Gedichten kommentieren. Im Multivisionszentrum spielen acht Gruppen mit Bildern und Filmen auf fünf großen Leinwänden. Der Tscheche Pavel Blumenfeld zum Beispiel zeigt hier Visionen von deutschen Städten. Der König der Werbefotografen, Charles Wilp, bringt mit seinen Mannequins eine »Creation Olympia«. In der Abteilung Medienstraße will Josef Anton Riedl »Sinneswahrnehmungen aktivieren«, durch Projektionswolken, haptische Böden, Laserlicht und „olfaktorische Duftobjekte“. Und überall zwischen den Buden und Bühnen werden sich Zauberer, Feuerschlucker, Jongleure, Kartenkünstler, Akrobaten, Bodybuilder, Girls, Tänzer, Sportclowns und „viele andere“ tummeln. Soweit das verheißungsvolle Programm.
Doch gerade diese zentrale Stätte gespielter Heiterkeit und Leichtigkeit sollte vom Terror unter allen sonstigen Olympiaparkstätten am schlimmsten getroffen werden. Am 5. September 1972 hat aller olympische Spaß aufgehört.