Münchner Choreograf Stephan Herwig zeigt erstmals eine Kreation auf komponierte Musik
Über Schönheit
Das Publikum sitzt im Kreis in einem schwarzen Raum. Das Gefühl für den eigentlichen Raum geht verloren. Ein räumliches Nichts etabliert sich. Die Welt ist eine andere. Durchbrochen wird der Kreis nur vom Flügel in einer Ecke. Das Instrument wird Teil des Rahmens, innerhalb dessen Stephan Herwig sein Stück „Les Préludes“ zeigen wird.
Das erste Mal zeigt Herwig hier eine Choreografie auf bereits komponierte Musik. Das erste Mal mit einem Live-Musiker (Zoran Imširović). Die Musik beginnt, die Tänzerinnen und Tänzer treten auf.
Chopins Prélude, op. 45, beginnt. Schwemmt durch den Raum. Formt ihn neu. Es ist eine von diesen todesnahen Kompositionen, das letzte Prélude des Komponisten. Die sechs Tänzerinnen und Tänzer finden sich in der Mitte, berühren sich jeweils mit einer Hand im Kreis – ein Reigen, umhüllt von Musik. Die Körper reagieren darauf, erst Gliedmaßen, dann ganze Torsi schmelzen aus dem Kreis heraus, sinken zusammen, tauchen ein. Es ist ein Bild von beklemmender Schönheit. Noch einmal forciert durch die Musik.
Die Macht dieser Musik ist beängstigend. Vor allem, wenn man Herwigs sonst so zurückgenommene abstrakte Stücke kennt. Bloß keine zu großen Aussagen, bloß nicht zu viel Bedeutungsmacht. Und hier? Brettert dieses Stück durch den Raum, erfüllt ihn, umhüllt das Publikum. Wogende Noten, suchend, dann zwei Mal wiederholt sich ein Motiv. Absteigende Akkorde, Tonartwechsel, Cis-moll nach B-Dur, dann dasselbe Motiv noch einmal in Gis-Dur. Durch die andere Tonart entrückt vom harmonischen Boden des Stücks. Außerweltlich, außerhalb der Realität, dadurch auch subtil erotisch. Verlust und Schönheit. Große Themen.
Im Anschluss wird die Beziehung von Musik und Tanz fast zum Machtspiel. Es folgen sieben Préludes von Debussy. Die sind harmonisch weniger solche Brecher wie Chopins op. 45. Der Impressionismus Debussys passt in seiner suchenden Introspektion allerdings gut zu Herwigs allgemeinem Stil: eruptiv bisweilen, aber den Blick mehr nach Innen als nach Außen. Hier formieren sich die Tänzer also zu verschiedenen Gruppen, zeigen Berührungen, Gemeinsamkeiten und Flüchte. Erst wenig, reduziert, später raumgreifender. Allzu sehr an die Vorgaben der Musik hält sich Herwig aber nicht. Die Musik läuft fast parallel zum Tanz, Tänzerinnen und Tänzer und Musik haben keine gemeinsamen Anfänge und Enden. Eigentlich passiert in der Stille zwischen den Musikstücken tänzerisch am meisten. Markanter Rhythmik entzieht sich Herwig. Die Bewegungen fließen um die Musik herum, mehr wie eine zusätzliche Phrasierung als eine Choreografie auf Musik. Der gemeinsame Atem treibt die Tänzerinnen und Tänzer. Die Begegnungen changieren zwischen Lässigkeit, Innigkeit, Erotik und Vehemenz.
Doch die Musik macht was. Sie bettet. Sie umhüllt. Und sie sorgt für die flirrende, unbändige Schönheit, die sich wie ein Foto-Filter über das Geschehen legt.
Es erfordert Mut, gerade in der zeitgenössischen freien Tanzszene, diese klassische Schönheit geschehen zu lassen. Die Musik ist hier kein ironischer Kommentar, kein treibender Beat, sie ist einfach schön. Eine schöne Kunst im alten Sinn. Darüber sind wir hinaus, schon lange.
Eigentlich. Denn wer sich auf diese Schönheit einlässt, wird von ihr bestochen. Doch wir kennen Brecht, wir kennen Dialektik auf Bühnen. Wir lassen uns nicht mehr blenden vom Mond und der Liebe. Doch Stephan Herwig ist mit seiner leisen Körpersprache genau der Richtige, dieser antiquierten Schönheit einen neuen Raum zu geben. Seine Mittel sind subtil. Er verzichtet auf tänzerische Dopplung der Musik. Er schafft einen Raum, der die Zuschauer von der Wirklichkeit entkoppelt, aber nicht mehr. Keine Kulisse, keine neue Welt wird erschaffen, man verlässt nur die als normal wahrgenommene Wirklichkeit. In diese Offenheit setzt er die Musik, lässt die Tänzer darauf gleiten, um sie herum gleiten, lässt sie die Musik spüren und spürbar machen. Nur am Ende kommt ein kleines Ausrufezeichen: Chopin, op. 45, noch einmal. Als Reprise. Verwirbelt sich diesmal mit dem Tanz, wogt durch den Raum, durch die Körper, durch die Welt. Zeigt Außerweltliches in seinen Harmoniewechseln. Wärmend, einnehmend, ohne einlullend zu sein. Und Stephan Herwig schafft es, Schönheit zu einem zeitgemäßen Inhalt zu machen, ohne in irgendeiner Weise restaurativ zu sein.
Rita Argauer
Les Préludes von Stephan Herwig, 1. – 4.12.2022, "schwere reiter", Dachauer Straße 114a.