"Radikal Jung" 2024 im Volkstheater

Ein starker Jahrgang

von Michael Weiser

Wer ist Kim, und wenn ja, wie viele? "Blutbuch". Foto: Kerstin Schomburg

Ein hervorragender Jahrgang, mit einem verdienten Gewinner des Publikumspreises: "Blutbuch" vom Theater Magdeburg kürten die Zuschauer des Festivals "Radikal Jung" am Münchner Volkstheater zum Gewinner. Und sonst? So viel Abwechslung war selten, sogar beim Festival für junge Regie.

Eine Klasse-Auswahl, die Jens Hillje, Christine Wahl, C. Bernd Sucher und Florian Fischer da fürs Frühjahrsfestival des Volkstheaters getroffen hatten. Wenngleich da mancher arg viel Betroffenheit und Selbstreflexion bemängelt haben mag. Sei's drum, der Jahrgang 2024 hatte Klasse.

Kriege und Krisen? Nicht so im Vordergrund, wie es mancher vielleicht erwartet hätte. Es ging nicht um Israel und Palästinenser, Ukraine und Russland, die drohende Wiederwahl eines Donald Trump. Thema war bei "Radikal Jung 2024" das Wesentliche, das, was in Zeiten der Unsicherheit Sicherheit geben sollte, was einem klar und eindeutig sein solle: wir selbst, respektive der Körper.

Eleganz und Athletik als Verkaufsargument. "Fugue Four : Response". Foto: Nicolaus Ostermann

Kurz: So viel Körperlichkeit war selten bei "Radikal Jung". Von Sicherheit oder auch nur Eindeutigkeit konnte aber nicht die Rede sein. So bereits beim Auftakt-Act des Festivals, "Fugue Four : Response" von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann (mit Unterstützung des Volkstheaters Wien). Ware und Konsument zugleich, das ist der Mensch in der finalen Phase des Kapitalismus. Vier junge Menschen beim immerwährenden Workout und Wettbewerb, eine sehenswerte Choreographie des Begehrens und Begehrt-Werdens.

Spielfreudig: Carmen Steinert und Oktay Önder in "Blutbuch". Foto: Julian Buchmann

Um das, was ein Wesen ausmacht, kreist "Blutbuch" von Kim de l' Horizon, in einer Fassung von Jan Friedrich (Theater Magdeburg). Konvention und queere Identität prallen aufeinander, die Persönlichkeit eines Menschen zerspringt in ein halb Dutzend Facetten, die von ebenso vielen Darstellern in Kim  de l'Horizonts Buchpreis-Kleid verkörpert werden. Eine rauschhafte, virtuose Produktion, die den mit 4000 Euro dotierten, vom Verein der Freunde des Volkstheaters gestifteten  Publikumspreis abräumte.

 

Bei aller Klasse der einzelnen Darsteller und des Bühnenbildes sei darüber hinaus die handwerkliche Qualität dieses überzeugenden Abends hervorgehoben. Wie zum Beispiel Carmen Steinert,  sich selbst am Keyboard begleitend, zu singen anhebt und wie sie eine Koloratur einbaut, sich in die Höhe schraubt und dann entgeistert oder erschrocken innehält: das muss man mit diesem Charme und in dieser Beiläufigkeit erstmal hinbekommen. Würde es bei Radikal Jung einen Darsteller-Preis geben – Carmen Steinert wäre ein Top-Anwärter gewesen.

Sein oder Nichtsein: Hendryk Quast in "Spill your Guts". Foto: C. Krauss

Den vielleicht radikalsten Ansatz bot Hendryk Quast in seinem Solo-Abend "Spill Your Guts" (Sophiensaele Berlin, Künstler- und Künstlerinnenhaus Mousonturm Frankfurt und Kampnagel Hamburg). Sagte ich Solo-Abend? Stimmt so vielleicht nicht ganz. Quast hält als Bauchredner Zwiesprache mit seiner Darmkrankheit, die durch eine erstaunlich hässliche Puppe auf seinem Arm verkörpert wird. Wie er vor und mit dem Publikum spielt, das sieht man in dieser Virtuosität selten. Es geht um Blähungen, Schmerzen, peinliche Situationen. Über die meiste Zeit bewegt sich Quast an der Grenze zur Lächerlichkeit, eine Gratwanderung, die er traumwandlerisch sicher bewältigt. Unappetitlich sind vor allem die Erwartungen an das Stück. Der Mensch als Mängelwesen - Quast entkleidet die Krone der Schöpfung in aller Natürlichkeit und zeigt eine echt menschliche Stärke: den Willen, im Angesicht des eigenen Verfalls doch weiterzumachen. "Spill Your Guts" überzeugte die Masterclass und erhielt die Auszeichnung des Regie-Nachwuchses.

Leben im Angesicht des Endes: "Arbeit und Struktur". Foto: Melanie Zanin

Verfall und unbeugsam selbstironische und schonungslose Reflexion: Wolfgang Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur" ist als Logbuch einer letzten Reise auf eigene Art hohe Literatur. Adrian Figueroa hat daraus fürs Düsseldorfer Schauspielhaus ein Stück gemacht, das bei "Radikal Jung" viele Menschen sichtbar bewegte. Ein Wechselbad der Gefühle, technisch souverän auf die Bühne gestellt, als Wohnung, die auch als Hirnkasterl angesehen werden darf. Herrndorf nahm die stetige Arbeit an diesem Blog auf, kurz nachdem er eine verheerende Diagnose erhalten hatte. Von "Raumforderung" sprach der Arzt, gemeint war: der Tumor im Kopf des Schriftstellers.

Hoffen, Bangen, Verzweifeln und Lachen wechseln sich ab, Lachen vor allem über diese Ironie des Schicksals: Herrndorf erlebt mit "Tschick" seinen Druchbruch, mit dem Buch, dessen Schreiben seinem Alltag im Angesicht des nahenden Tods Struktur gegeben hatte. Herrndorf hat auf einmal Geld, viel, viel mehr, als er in seinem bisschen Leben noch ausgeben kann. Figueroa macht aus den Jahren des Kampfs gegen die Krankheit und des Widerstands gegen die Verzweiflung einen anrührenden, großen 90-Minüter. Schließlich wirft ein Projektor ein Meer von Buchstaben auf die Bühne. Herrndorfs letzte Blog-Einträge überziehen wie ein Tarnnetz eine Szene in Auflösung, es ist, als ob Herrndorf dahinter verschwindet. Am 26. August 2013, um 23.15 Uhr Abends, erschoss sich Herrndorf am Hohenzollernkanal. Figueroas Arbeit ist zumindest der ernst zu nehmende Versuch eines flüchtigen Denkmals.

Rituale des Abschieds: "Goodbye, Lindita". Foto: Theofilos Tsimas

Eine wahrlich beeindruckende Produktion, womöglich die rätselhafteste und anrührendste Arbeit: "Goodbye, Lindita" von Mario Banushi (Nationaltheater Athen). Die Trauer hält Einzug in eine banale, alltägliche griechische Wohnung, Rituale des Abschieds schlagen Brücken in eine mythologische Vergangenheit. Eine geliebte Verwandte (die Tochter?) stirbt und wird als Braut geschmückt. Persephone thront inmitten eines Meers von Trockeneisnebel und empfängt die toten Seelen. Ein Stück ohne Worte, das durch seine starken Bilder spricht. In einer Sprache, die wohl nur dem Unterbewusstsein wirklich verständlich ist.

Was für eine Energie: Nona Demey Gallagher & Liselot Siddiki mit "Up your Ass". Foto Helena Verheye

Hat "Radikal Jung" einen Tenor, einen klar erkennbaren Trend? Angesprochen wurde die Körperlichkeit dieses Jahrgangs. Mit vollem Körpereinsatz ging "Up your Ass" zur Sache, ein monty-pythonesker Frontalangriff auf patriarchale Denkmuster. 65 Jahre ist dieser selten aufgeführte Text von Valery Solana alt, die Fragen, die es stellt, mögen immer noch aktuell sein – aber man darf vermuten, dass es vor allem an der Bearbeitung durch Nona Demey Gallagher und Lieselot Siddiki liegt, dass dieses Stück in der aktuellen Ausgabe von Radikal Jung unbedingt als Gewinn zu verbuchen war.  "Up your Ass" ist eine Zumutung, voller Gewalt, Komik und Energie, Überwältigungstheater der grotesken Form, mit einem DJane-Pult und E-Schlagzeug auf dem Hochhaus-Dach als Kraft- und Maschinenraum.

Der Mann als Mängelwesen: "Männerphantasien". Foto: Jasmin Schueller

Eine Revue der dumpfen Männlichkeit, kurzweilig und flott in einem Setting surreal verfremdeter Romantik, unterbrochen von den ätherischen Auftritten eines Countertenors, war "Männerphantasien" in der Regie von Theresa Thomasberger (Deutsches Theater Berlin). Kein schlechter Abend, der gleichwohl kaum Spuren hinterlässt – außer der Erinnerung an flotte Sprüche: "Wissenschaftler fanden heraus. Und dann gingen sie wieder rein."

Rätselhaft, verwirrend und sehr unterhaltsam: Klangtheater von "Current Resonance". Foto: Current Resonance

Novum beim Festival: Erstmals war eine Produktion zu sehen, die eigentlich eher zum Hören gedacht war: der Fünfakter "À la Carte" des Komponisten-Sextetts "Current Resonance" (Ku.Be Kopenhagen), Musik ohne klassische Instrumente, die ein "Lost Supper", "Musik für tote Tiere" und die Empfindungen einer Torte in ein Spielfeld der Imagination verwandelte. Kaum zu entschlüsseln, schwer zu beschreiben, aber unbedingt unterhaltsam.

Sandy, sweet as Candy: Uschi vom Späti in "Pandoras Heart". Foto: Dschamilja Liess

Trash-Oper mit Charme: "Pandora's Heart", das "lip-sync-musical" des SchwuZ Queer-Club, beweist Mut zum Kitsch und zum großen Gefühl. Eine Alice-im-Wonderland-Story mit einer Sandy "sweet as candy" im Labyrinth der Möglichkeiten. Eine bonbonfarbene Liebesstory mit beeindruckender Playlist und Happy-End, von der sich die meisten Zuschauer gut unterhalten gefühlt haben dürften. Ach ja, mit Pandora und ihrer Büchse hatte das alles natürlich gar nichts zu tun.

Die Seele einer Landschaft, die Heimat, verkauft für schnöden Mammon - das gab's im vergangenen Jahr mit "Gondelgeschichten" und heuer mit "Das Kraftwerk" (Theater Cottbus, Regie Aram Tafreshian). Calle Fuhr ist der Autor des Recherchestücks über schmutzige Deals zwischen Kapital und Kommunalpolitik in der Lausitz, mit Hilfe von "Correctiv" hinterfragt.

Fuhr erzählt die Geschichte aus der Perspektive verschiedener Figuren, beispielsweise des Kohleabbau-Veteranen, des Investmentbankers und der im Boden der Lausitz verwurzelten altlinken Mutter. Nicht gar so bierernst wie klassisches Doku-Theater, aber doch weit von dem charmanten Schmäh der "Gondelgeschichten" entfernt.

Aufstand der Schickanierten: "Die Gerächten". Foto: Florian Duerkopp

Die Unterdrückten stehen auf und wenden den Terror gegen die "Nazis": Das ist die Story von "Die Gerächten" von Murat Dikenci (Theater Dortmund). Drei Protagonisten mit "Migrationshintergrund" berichten von ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt, möglicherweise ihrem einzigen gemeinsamen Nenner. Reicht dieser Nenner zur Gewalt gegen Gewalttäter? Nein, wie sich herausstellt: Die "Gerächten" wären eben keine Gerechten, töteten sie bei ihrem Anschlag auch nur einen Unschuldigen. Ein Kind beispielsweise. Unbequem nur am Anfang, am Ende eine Botschaft, auf die sich alle einigen können.

Faust und Gretchen, nunmehr eins: "Doktormutter Faust". Foto: Birgit Hupfeld

Wie auch bei "Doktormutter Faust" vom Schauspiel Essen. Selen Cara hat einen Hochglanzabend gestaltet, der mit Goethe und patriarchalen Mustern aufräumt. Wer sagt, dass Gretchen ein Opfer ist? Margarete Faust (Bettina Engelhardt) ist eine starke Frau und doch zerrissen, ein "faustischer Charakter", der Täter ebenso wie Opfer ist. Erstaunlich konservativ, der Abend, ziemlich konstruiert und manchmal schlampig: die faschistoide Obrigkeit im Hintergrund ist eine "rechte" Regierung. Die Botschaft, dass rechts nicht links und damit gleich böse sei, durchkreuzt die hochgetrimmte Künstlichkeit des Abends mit Einfalt.

Kindheit in Trümmern: "Das große Heft", die Eigenproduktion des Münchner Volkstheaters. Foto: Gabriela Neeb

Und dann war da doch noch der Unfrieden: "Das große Heft", der Festivalvertreter des Gastgebers, erzählt von Kindern, die in einem namenlosen Krieg aufwachsen. Ran Chai Bar-zvi inszeniert den ersten Teil einer Roman-Trilogie von Ágota Kristóf zurückhaltend, formal streng, und in seiner forcierten Beiläufigkeit um so überzeugender: das Portrait einer Jugend, die im Krieg verroht und sich selbst aufs Töten abrichtet. Ein sehr unsentimentaler Blick auf die menschliche Verfasstheit in Zeiten der Gewalt, in der die aggressiv anmutenden Formen militärischer Hindernisse, sogenannter "spanischer Reiter", zu Spielplätzen mutieren. Eine starke Produktion.

Bilder vom Krieg gegen die Frauen: "Cadela Forca Trilogy". Foto: Christophe Raynaud de Lage

Und dann noch ein schmerzhafter, selbstquälerischer Akt, der ein Schlaglicht auf den unendlichen Krieg von Männern gegen Frauen wirft: "The Cadela Forca Trilogy, Chapter I" der brasilianischen Künstlerin Carolina Bianchi. Sie erzählt - als Regiesseurin, wohlgemerkt, und nicht als Schauspielerin, von einer Frau, die als Künstlerin durch Europa trampt und nahe Istanbul ihrem Vergewaltiger und Mörder begegnet. Die Reise wird zum roten Faden einer Erzählung von Gewalt, von Boccaccios "Decamerone" und Dantes Inferno bis zum institutionalisierten Missbrauch in Brasilien und anderen Machogesellschaften. Carolina Bianchi macht sich selbst zum Objekt. Sie nimmt einen Drink zu sich, versetzt mit "Goodnight Cinderella", mit K.o.-Tropfen. Nach gut einer Dreiviertelstunde gleitet sie in die Bewusstlosigkeit, ihrer Stimme ist nur noch aus dem Off zu hören, und das Kollektiv Cara de Cavalo übernimmt: eine Collage einer alptraumhaften Nacht, des orgiastischen Feierns, des Vergrabens, des Auffindens von Frauen-Leichens. Mal liegt Carolina Bianchi auf einer Matratze, mal auf dem Kühler eines Autos, den Blicken von Kollektiv und Publikum bis aufs letzte ausgeliefert. So erzählt Bianchi von der Gewalt gegen Frauen, in halb bewussten Bruchstücken, die sich doch wuchtig in die Erinnerung graben.

Veröffentlicht am: 14.05.2024

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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