Kleists "Krug" am Münchner Volkstheater
Ein Fall, der in die Vergessenheit kreiselt
Wenn sich alle ihr Urteil bilden: Max Poerting, Steffen Link, Anne Stein, Jan Meeno Jürgens, Luise Deborah Daberkow, dahinter Pascal Fligg. Foto: Arno Declair
Ein Klassiker, ganz neu präsentiert. Und damit sehenswert: Mathias Spaan schachtelt Kleists "Zerbrochnen Krug" am Münchner Volkstheater ineinander. Und präsentiert das angebliche Lustspiel, als habe Kleist bereits von #metoo gehört.
Gegen Ende senkt sich der Vorhang. Und das ist eine Nachricht. Nicht so sehr deswegen, als der fallende Vorhang zum Schluss des Abends an den Theatern eigentlich längst außer Mode ist, sondern deswegen, weil dahinter eines der schönsten und spannendsten Bilder verschwindet, die man in jüngerer Zeit am Münchner Volkstheater gesehen hat: Da kreiselt ein verschachteltes Gebäude, das in verschiedenen Szenen verschiedene Örtlichkeiten darstellt, in den Hintergrund der Bühne. Man könnte auch sagen: in die Vergessenheit.
Und davor, fassungslos: Anne Stein als Eve. Da ist der Prozess um ein zerscherbtes Stück Keramik in den eineinhalb Stunden zuvor wieder und wieder durchgespielt worden, aus allen Blickwinkeln. Nur eben nicht aus dem ihren, nicht aus der Perspektive der Betroffenen. Der Perspektive der Eve, die von diesem Dorfrichter Adam gezwungen, nicht verführt wurde. Im Monolog, so bei Heinrich von Kleist nicht zu finden, klärt Eve die Zuschauer nach dem Fall des Vorhangs, im grandios leeren Bühnenraum, an einer Töpferscheibe sitzend, hinreichend auf. Die Weglassungen in ihrer Geschichte mag sich jeder selbst ausfüllen.
Sie ist, ganz und gar zeituntypisch in Trainingsjacken, dunkle Hose, T-Shirt und Sportschuhe gekleidet, der Fremdkörper in dem Stück. Sie ist diejenige, die nicht mittut, sondern sich das Ganze wieder und wieder anschaut. Nicht wütend, eher verblüfft spielt Anne Stein ihren Part. Es ist ja auch unglaublich, wie der Dorfrichter immer wieder Ausflüchte findet. Pascal Fligg, er ist der Routinier in der jungen Truppe, verleiht dem Halodri viele Facetten, ja, sogar so etwas wie Sympathiefähigkeit, weil er so glaubhaft tief in Schwierigkeiten steckt. Und weil er sich gar so verstiegene Ausreden auszudenken vermag. Ein Lotterbube, der nur zu gut zum Schreiber Licht passt, dem Steffen Link Machtgeilheit und verklemmte Nüchternheit mitgibt - er und sein Richter sind zwei Seiten einer Medaille.
Regisseur Mathias Spaan hat gut besetzt, was mit Jan Meeno Jürgens verdeutlicht sei: Sein Gerichtsrat Walter ist ein smarter, karrierebewusster junger Justiz-Manager. Schlauheit und Fachwissen, aber – diese Figur ist hinreißend ambivalent angelegt – feien gegen Komplizenschaft nicht. Für die burlesken Züge sorgen Luise Deborah Daberkow mit Lust am Chargieren, Max Poerting als Ruprecht Tümpel und – wandelbar in einer Doppelrolle – Ruth Bohsung als Frau Brigitte und Magd Margarete.
Vor allem aber hat Mathias Spaan wie schon bei "8 1/2 Millionen" geschickt geschachtelt. Anna Armann hat sich dafür ein dreh- und wandelbares Bühnenkonstrukt ausgedacht, nicht nur gut anzusehen, sondern sinnvoll ineinander verwoben, auf dass die Protagonisten fleißig spazieren gehen können: nicht nur zwischen den Orten der Handlung, dem Haus von Marthe Rull, dem Haus des Richters, dem Gerichtssaal, sondern auch in verschiedenen Zeitebenen. Sie wandeln sozusagen in ihrem eigenen Gedächtnispalast, mit der allgegenwärtigen Möglichkeit falsch abzubiegen.
Flott ist das, ein ziemlich kurzweiliges Rätselspiel, was Mathias Spaan da auf die Bühne des Volkstheaters gestellt hat. Apropos Bühne: Wer Zweifel hatte, ob das (noch immer) neue Haus an der Tumblinger Straße besonders viel kann, darf sich von dieser Produktion überzeugen lassen. Platz, Architektur und Technik machen den starken Schlussakkord erst möglich: Eves verstörende Einsamkeit in diesem riesigen leeren Raum, ihre müden Worte, ihr Werkstück auf der Töpferscheibe. Traurig eiert er vor sich hin, dieser klägliche Versuch in Ton. Dieser Krug, das sehen wir, bevor's dann wirklich dunkel wird, wird nie mehr heile werden.