Im Reich der Schatten
Der Staub, aus dem wir sind, der Staub, zu dem wir werden: Stefan Marria Marb taucht in „Body Memories“ seine Tänzer in Asche und lässt in der White Box Zwischenwelt auf Gegenwart prallen.
Die Besucher haben sich eingerichtet, in beiden Stockwerken stehen sie in Grüppchen beinander, Gläser in der Hand. Langsam glimmt ein Licht im großen Raum der White Box auf. Gestalten werden sichtbar zwischen den Gästen, bleich, wie gekalkt, sie könnten Figuren einer Installation sein oder Gipsabgüsse aus Pompeji, Abbilder von Menschen, die mal waren, deren Gestalt für immer vergangen ist und nur noch im Hohlraum der Asche zu entdecken sind, die sie einst glühend umschloss. Die Gestalten beginnen sich zu rühren; tastend finden sie in die Bewegung zurück, aber nicht zueinander, nicht zu den Besuchern. Sie sind Schatten in einem Zwischenreich zwischen Tod und endgültigem Schlussstrich, wie in Jon Fosses gleichnamigen Stück. Schatten: Hier sind es nicht Worte, sondern Bewegungen, mit denen sich die Tänzer an ihr vergangenes Leben zu erinnern suchen.
"Body Memory“, die Performance Stefan Marria Marbs, stellt den Zuschauer vor Herausforderungen. Assoziationspunkte bilden sich – und verflüchtigen sich sogleich wieder. Butoh ist eine reduzierte, meditative Form des Tanzes, die aus einer Erfahrung geboren ist - nämlich der von Hiroshima und Nagasaki. Aus den Bildern eines Blitzes, heller als die Sonne, der die Menschen in Staub verwandelte, ihre Schatten in Wände einbrannte, ihre Kleider zum Raub des Windes machte, wie bei den vom Todesstrahl getroffenen Menschen in George Lucas Science-Fiction Klassiker „Krieg der Sterne“.
Es geht hier nicht so sehr um Tanz als Kunstform – das wiederum wäre mit den Laien, mit denen Marb das Projekt in Szene gesetzt hat, schwierig - es geht um eine Dramaturgie: um einen Prozess, vielleicht um das Streben ans Licht in einer Zone, die nachgerade unbegreifbar ist: Eine Zwischenwelt nach dem physischen Tod, doch ohne den symbolischen Tod, ohne die Rituale, die Trauer, das Aufarbeiten des Unbegreifbaren, die eine Gesellschaft zur Heilung ihrer Seelenwunden bedarf. Diese Schatten bewegen sich noch immer, bewusstseinslos, ruhelos, weil sie ihre Heimat nicht mehr finden können.
Der Besucher ist Teil des Ganzen, geht auf in der Performance. Die Schatten bewegen sich mitten unter der Schar der Zuschauer, die beklommen ein ums andere Mal zur Seite treten. Da treffen zwei vollkommen fremde Sphären aufeinander – vollkommen beabsichtigt. Man denkt an Odysseus, der dem Schatten des Achill begegnet: Ein Bericht aus dem ewigen Zwielicht, Staub und bitteres Wasser dienen als Speise. Die Griechen wussten, wozu Flüsse gut sind: Hat man Lethe überquert, winkt ewiges Vergessen. Die Atmosphäre ist beeindruckend, beredte Kommunikationsunfähigkeit führt den Betrachter an Grenzen. Irgendwann erklingt Zarah Leanders „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. Ein Erinnerungsfetzen aus den Zeiten des Krieges.
Am Ende erklimmen die Schatten die Treppe ins obere Geschoss der White Box. Sie quälen sich, zerren an ihren Gewändern, als seien sie in ein Nessos-Hemd gehüllt. Geleitet Orpheus die Schatten ans Licht? Winkt schließlich Befreiung? Nicht wirklich; nicht für die Schatten, nicht für uns. Wie gehen wir mit dem endgültigen Abschied um, wie mit der Trauer, wie mit der Endlichkeit? Der Tod bleibt ein fremdes, ein ungeheures Reich.