Im Reich der Schatten

von Michael Weiser

Der Staub, aus dem wir sind, der Staub, zu dem wir werden: Stefan Marria Marb taucht in „Body Memories“ seine Tänzer in Asche und lässt in der White Box Zwischenwelt auf Gegenwart prallen.

Aufnahme von den Proben (Foto: Veranstalter)

Die Besucher haben sich eingerichtet, in beiden Stockwerken stehen sie in Grüppchen beinander, Gläser in der Hand. Langsam glimmt ein Licht im großen Raum der White Box auf. Gestalten werden sichtbar zwischen den Gästen, bleich, wie gekalkt, sie könnten Figuren einer Installation sein oder Gipsabgüsse aus Pompeji, Abbilder von Menschen, die mal waren, deren Gestalt für immer vergangen ist und nur noch im Hohlraum der Asche zu entdecken sind, die sie einst glühend umschloss. Die Gestalten beginnen sich zu rühren; tastend finden sie in die Bewegung zurück, aber nicht zueinander, nicht zu den Besuchern. Sie sind Schatten in einem Zwischenreich zwischen Tod und endgültigem Schlussstrich, wie in Jon Fosses gleichnamigen Stück. Schatten: Hier sind es nicht Worte, sondern Bewegungen, mit denen sich die Tänzer an ihr vergangenes Leben zu erinnern suchen.

"Body Memory“, die Performance Stefan Marria Marbs, stellt den Zuschauer vor Herausforderungen. Assoziationspunkte bilden sich – und verflüchtigen sich sogleich wieder. Butoh ist eine reduzierte, meditative Form des Tanzes, die aus einer Erfahrung geboren ist - nämlich der von Hiroshima und Nagasaki. Aus den Bildern eines Blitzes, heller als die Sonne, der die Menschen in Staub verwandelte, ihre Schatten in Wände einbrannte, ihre Kleider zum Raub des Windes machte, wie bei den vom Todesstrahl getroffenen Menschen in George Lucas Science-Fiction Klassiker „Krieg der Sterne“.

Es geht hier nicht so sehr um Tanz als Kunstform – das wiederum wäre mit den Laien, mit denen Marb das Projekt in Szene gesetzt hat, schwierig - es geht um eine Dramaturgie: um einen Prozess, vielleicht um das Streben ans Licht in einer Zone, die nachgerade unbegreifbar ist: Eine Zwischenwelt nach dem physischen Tod, doch ohne den symbolischen Tod, ohne die Rituale, die Trauer, das Aufarbeiten des Unbegreifbaren, die eine Gesellschaft zur Heilung ihrer Seelenwunden bedarf. Diese Schatten bewegen sich noch immer, bewusstseinslos, ruhelos, weil sie ihre Heimat nicht mehr finden können.

Aufnahme von den Proben (Foto: Veranstalter)

Der Besucher ist Teil des Ganzen, geht auf in der Performance. Die Schatten bewegen sich mitten unter der Schar der Zuschauer, die beklommen ein ums andere Mal zur Seite treten. Da treffen zwei vollkommen fremde Sphären aufeinander – vollkommen beabsichtigt. Man denkt an Odysseus, der dem Schatten des Achill begegnet: Ein Bericht aus dem ewigen Zwielicht, Staub und bitteres Wasser dienen als Speise. Die Griechen wussten, wozu Flüsse gut sind: Hat man Lethe überquert, winkt ewiges Vergessen. Die Atmosphäre ist beeindruckend, beredte Kommunikationsunfähigkeit führt den Betrachter an Grenzen. Irgendwann erklingt Zarah Leanders „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“. Ein Erinnerungsfetzen aus den Zeiten des Krieges.

Am Ende erklimmen die Schatten die Treppe ins obere Geschoss der White Box. Sie quälen sich, zerren an ihren Gewändern, als seien sie in ein Nessos-Hemd gehüllt. Geleitet Orpheus die Schatten ans Licht? Winkt schließlich Befreiung? Nicht wirklich; nicht für die Schatten, nicht für uns. Wie gehen wir mit dem endgültigen Abschied um, wie mit der Trauer, wie mit der Endlichkeit? Der Tod bleibt ein fremdes, ein ungeheures Reich.

Veröffentlicht am: 10.04.2011

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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Günter
10.04.2011 22:18 Uhr

Beeindruckend - aber nicht so morbid wie die Kritik oben, fand ich. Ich fühlte mich sogar zum Mitmachen animiert, lachte mit, als die Darsteller innerhalb der Szene lachten. Mir reicht es, die Darstellung auf mich wirken zu lassen, ohne sie zu interpretieren. Das reduziert "bodymemory" für mich zu einer eigenen "bodymemory", ebenso langsam und direkt, wie es die gelungene Darbietung selbst für mich war.

Pia
11.04.2011 23:22 Uhr

Als Mitwirkende empfand ich besonders in der letzten, dritten performance, eine starke, beinah heilsame Kraft, die uns Tänzer mit unserer eigenen wie kollektiven Erinnerung verband. Wir tanzten für nicht vergessene Seelen, wie die Kazuo Ohnos und für Japan. Und das spürte wohl auch das Publikum, das sich wie ein feines, durchdringbares Lebensnetz um unser Atmen zu spannen schien und sich mitbewegen ließ.

Brigitte
12.04.2011 10:32 Uhr

Der Name der Performance"Bodymemory"hat sich bei mir als Teilnehmerin als wahrhaftig entfaltet, da er mir zwar schmerzhafte aber sehr eindringliche Erinnerungen beschert hat, die sich über den Zeitraum von der Vorbereitung bis hin zur 3.Aufführung kontinuierlich entwickelten hin zu einer persönlichen Verwandlung, die weiter wirkt.