Auf dem Weg nach Utopia
Den utopischen Ort bestimmen zu wollen, müsste eigentlich zu seiner Selbstauslöschung führen, bezeichnet "Ou Topos" im Griechischen ja den Nicht-Ort Vermessung des Nicht-Ortes? Naja, passt schon in die Isabellastraße. Instinktiv liegt man doch gerade richtig in Schwabing, jenem Paradebeispiel imaginärer Topografie, mit der Frage: Wo geht´s hier bitte zur Utopie?
Das „Irkutsk“ ist wirklich utopisch gemütlich. Oder gemütlich utopisch. Tatsächlich hat da Wanja Belaga, Mitbegründer des „Prager Frühlings“, seinerzeit im Babalu in der Ainmillerstraße, ein Stück sibirischer Kulisse in den kleinen Wohnzimmergastraum mit der roten Theke gebracht. Die Vertäfelung in halber Höhe rundherum ist lindgrün, wie das in den Holzhäusern Sibiriens so ist, die sich mit dieser Farbe gegen die Kälte zu stemmen scheinen. Schnell waren diese einfachen Häuser hingestellt im Goldrausch Sibiriens unter Alexander III., an den Ufern des Jenissei.
Am Tresen des „Irkutsk“ dampfen am Karfreitag Teller mit Borschtsch. Alle sind überaus freundlich, und der Tempranillo ist gut. Ira Blazejewska erfüllt ihre Aufgabe einer Gastgeberin wie eine klassische Salonière – charmant und bestimmt, mit erotischer Präsenz. Die Pflege der Geselligkeitskultur war das Credo der literarischen Salons, mit ihren oftmals aus dem Adel stammenden Gönnerinnen, denen das Forum des Salons zur emanzipatorischen Übung diente. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kamen Künstlercafés wie das "Café Stefanie" hinzu, ganz Schwabing wurde der Salon der Franziska von Reventlow. München leuchtete. Mit der Medaille "München leuchtet" rückt die offizielle Stadt heute das Zitat von Thomas Mann verklärend in die Gegenwart: Rückkehr zur Utopie.
"Kreuzigung – Utopie": Das war für das schnell gefüllte Wohnzimmer des slawophilen Trinkvergnügens in der Isabellastraße als Thema derart eine Hausnummer zu groß, dass im Endeffekt jede Menge Liebenswertes zum Vorschein kam. Man versteht auch mal wieder: Kunst soll Leute zusammenbringen, und das gelingt oft im kleinen Raum. Dass dabei nicht unbedingt nur Kleinkunst herauskommen muss, zeigte die Arbeit von Gabriele Fichtl, eine Fotoübermalung auf Textil. Fabrizio Rosetti verstand das Kreuz als Hinrichtungsgerät und provozierte: Ein elektrischer Stuhl könnte also auch das Symbol einer Religion werden. Da drücken wir mal die Augen zu und werten das als kleinen 68-Dinosaurier-Witz. Bunt gemischt war eben diese sibirische Hängung.
Anschließend gab es ein Katzentischchen-Gespräch der ganz heterogenen Art. Zum Thema "Utopia" referierten in wenigen von Salonière Ira gestatteten Sätzen die Beteiligten letztlich ausschließlich über ihre Tätigkeitsfelder. Leda Hernandez, Entwicklungspolitik, Georg Zoche, Autor von „Welt Macht Geld“, Stefanie Graul, Philosophin mit Lehrauftrag an der katholischen Stiftungsfachhochschule München, Alfred Körblein, Physiker, Jonathan Hooper, Pfingstchrist, Ex-FDP-Mitglied und neuerdings bekennender Kommunist, und Swantje Grünrock, Lebensmittelchemie, Anhängerin Demokrits und Wodka-Verkosterin. Die Besetzung dieses Diskussionsbrettls versetzte einem schon so einen leichten Niesreiz zwischen die Augenbrauen, der einem heftigen Lachanfall voraus zu gehen pflegt. Allerdings es kam auch anders. Den Ausführungen von Stefanie Graul und Georg Zoche hätte man gerne länger gelauscht. Alfred Körblein, der Physiker, warf noch schnell den etwas in die Jahre gekommenen Trumpf vom Heil derMenschheit in den Händen der Frauen in die Runde, und weil's so schön war, sangen dann Studenten der Theaterakademie ein Medley aus "Jesus Christ Superstar". Salon Irkutsk, die Mischung nehmen wir als Programm und das macht Spaß: Sie, bittscheen, wo geht's 'n hier nach Utopia?
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