Die Welt hinter ihrer Erscheinung

von kulturvollzug

Das Ziel der Meditation ist die Leere. Für die Leere gibt es kein Gefäß, sie ist grenzenlos. „If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man as it is, infinite“. Das ist der berühmte Satz des Dichters und Naturmystikers William Blake aus dem 18. Jahrhundert, der Pate stand für die Namensgebung der Rockband „The Doors“. Der Grenzverkehr zwischen Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung ist auch das Programm des Duos David Brandstätter & Malgven Gerbes in ihrer Performance „Notebook“ beim Dance Festival 2010. Im Grenzgebiet der Wahrnehmung sucht der Körper die Welt hinter ihrer Erscheinung.

David Brandstätter schüttet zu Beginn sorgsam einen Kegel von feinem Reis in der hinteren linken Ecke des leeren Raumes auf. Er holt den breiten Besen, den man früh morgens vom U-Bahn-Reinigungspersonal kennt und aus einer konzentrierten Bewegung zirkelt er aus diesem Kegel die Menge vor den Besen, die ihm dient, um damit eine Linie auf den Boden zu ziehen. Ein Quadrat entsteht. Ein Quadrat, das er mit dem schiebenden Besen auch wieder durchbricht. Eine Grenzziehung, eine Raumdefinition, innerhalb derer Malgven Gerbes sich befindet. Sie repräsentiert in ihren Bewegungen den von einem Kokon, von einer Blase umhüllten Tänzer des Thai Chi. Dieser Kokon, dieser Mutterleib lässt sie in weichem, rhythmisch spannungsvollem Swing über die Grenzen gehen, taumeln, gleiten. Es ist die Rhythmik des Windes, der durch Bambus weht, ihn wiegt und wogt und wieder austanzend verlässt. Geräuschlosigkeit macht sich breit, stillmalerisch. Mit den geringsten Mitteln ist quasi ein semantischer Raum der (Vor-)Begrifflichkeit des Tanzes definiert. Sparsam, souverän und pathosfrei. Zu diesem Entwurf fügen sich peu à peu die Geräuschkulissen des Sounddesigners Christoph Engelke und die Bilder des Videokünstlers Julien Crépieux. Geräusch, Bild und Bewegung erschaffen sukzessive das Konstrukt einer Minimal Opera. Man lauscht den Formulierungen des Tanzes.

Klassisch, dramatischer Tradition folgend, verliest Malgven Gerbes am „Peripetiepunkt´, ein Drittel vor Schluss über Mikrophon Poetisches zum vorher Exponierten. Gegensätze in der Betrachtung der Zeit, wie sie für Europa und Asien typisch sind (linear-zyklisch), wirken zunächst fast überbestimmend, der tänzerische Diskurs war ja bereits klar lesbar gewesen. Stark dagegen der kleine Wahrnehmungs-Grenzverkehr: `Nimm den Klang des fallenden Schnees auf. Am besten am Abend. Hör es dir nicht an. Zerschneide das Band und nimm es für ein Geschenk´.

Auch auf der Bühne lösen sich jetzt die Grenzen, Streckennetze, Topographien des Reis-Bretts auf. In Klangcollagen von eindringendem Wasser und den Signalen von Schiebetüren im Fluss asiatischer Großstädte begegnen sich der Grenzzieher und die bewegungsumhüllte Frau. Dann fasst man das Ergebnis der Grenzauflösung zusammen. David Brandstätter stellt eine kleine Projektionsleinwand in den Raum. Man hört das einzelne Reiskorn fallen. Beide, zwischen ihnen die Leinwand, werfen abwechselnd ein Reiskorn auf den Screen, die Schautafel, die Flipchart. Der Vorläufer des Notebooks?

Im Anschluss wird der Film „Eulogy to the Shade“ der Gruppe s-h-i-f-t-s, bestehend aus Malgven Gerbes und David Brandstätter (Choreographie), Julien Crépieux (Video) und Christoph Engelke (Tonkunst) gezeigt. Darin sehen wir unter anderem den Bergkegel einer japanischen Insel.

Zu diesem Kegel hatte David Brandstätter den im Raum verteilten Reis wieder zusammen geschoben - rund um die Demonstrationsleinwand – im linken hinteren Ende der Bühne.

Michael Wüst

Veröffentlicht am: 29.10.2010

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