Ein Dinosaurier im Herkulessaal

von kulturvollzug

Unsichtbare Dinosaurier und Münchner Entdeckungen: Das fünfte Konzert der Musica Viva des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchener Residenz mit dem Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wartete unter der Leitung von Arturo Tamayo mit einem durchwachsenen Programm auf.

Sieben bis neunmal pro Konzertsaison kommt freitags zur „Musica Viva“ ein wackeres Völkchen zusammen. Es geht um „Zeitgenössische Musik“, der Bayerische Rundfunk lädt zu neuer Orchestermusik ein, manchmal zu neuer Chor- oder Kammermusik. Terminlich war’s diesmal ungünstig: Am gleichen Abend spielte das Rundfunkorchester seine Reihe „Paradisi Gloria“, in der auch Neue Musik im geistlichen Rahmen ertönt, diesmal sogar mit den verstorbenen Zugpferden Morton Feldman und Isang Yun. Wo sollte man hin? Der BR sollte sich intern besser koordinieren oder beide Konzerte zweimal geben, damit man zu beiden kann. Oder einen Marathonabend zusammenstellen.

Die lebenden Komponisten der „Musica Viva“ waren nicht alle anwesend. Der Dresdner Jörg Herchet (geboren 1943), Autor der ersten Uraufführung „sich aufhebend – komposition 4, XXII für Orchester“, fehlte krankheitsbedingt. Vielleicht hätte seine Anwesenheit das Sinfonieorchester zu mehr Konzentration angespornt: Folgte man den Augen der Musiker, so schien das Stück eine lustige Einspieletüde gewesen zu sein. In drei Teilen sollten drei Zeitformen  in drei Teilen behandelt werden. Das führte zu spärlichen Erinnerungsfetzen von Symphonik bis Jazz. Am auffallendsten war ein dichter Akkord, der immer wieder aufschien und durch ähnliches Material im Verlauf fortgesetzt wurde. Dem stand allerdings eine Art Live-Surround von um das Publikum verteilten Solo-Streichern und Blechbläsern im Wege: Die Streicher spielten Neue-Musik-Allerweltsfloskeln und erinnerten eher an lebende Sinustongeneratoren: Das Stück verweilte in einem Tempomittelmass - kürzungswürdig!

Die Uraufführung „Elenchus“ für Orchester des anderen Dresdners Thomas Kupsch (geboren 1959) entledigte sich dagegen des Neuen-Musikmaterials als eine Art „Gegenbeweis“, was der Titel übersetzt bedeutet. Es begann leise in septgetrübtem Moll. Immer wieder hörte man Einsprengsel von Harfe und Schlagzeug, Glissandi auf Klaviersaiten, Effekte, die es bereits im vorigen Stück zuhauf gegeben hatte. Hier aber erhielten sie durch das gewohnt „tonale“ Umfeld eine eigene Aura, bäumten sich in kräftigen, nicht unangenehmen Crashbecken-Attacken auf. Was bei Jörg Herchet zum bloßen Zitat geführt hatte, war hier trotz Heterogenität integraler Bestandteil. Und man stellte wieder mal Frappierendes fest: Sobald ein Orchester wie ein klassisch-romantisches Orchester spielen darf, klingt es wunderbar, selbst ödere Einwürfe werden mit hohem Ernst exerziert.

Es folgte nach der Pause die Uraufführung von Valerio Sannicandros „forces motrices“ für grosses Orchester, Theremin Vox - ein Dinosaurier elektronischen Instrumentariums - mit der Virtuosin Barbara Buchholz sowie der Live-Elektronik des Experimentalstudios des Südwestdeutschen Rundfunks Freiburg. So war man auf Spektakuläres gefasst. Sannicandro war bereits vor einigen Jahren mit seinem BMW-Musica-Viva-Wettbewerbsstück „strali“ aufgefallen. Mit Caspar de Gelmini, ein ehemaliger Finalist des BMW-Preises, gewann er den Live-Elektronik-Wettbewerb.

Im Programmheft war ein ungewöhnlich positioniertes Orchester samt live-elektronisch verfremdeter Klänge angekündigt. Das von dem Russen Lev Sergejewitsch Termen erfundene Theremin Vox, das man ohne Berührung spielt, indem man die Hände im magnetischen Feld zweier Antennen bewegt, war als eine Art szenischer Antipode zum Dirigenten angekündigt worden. Allerdings klangen die Verfremdungen nicht anders als Filter- und Raumeffekte von Flötenklängen. Das Theremin Vox drang selten durch, und von zwei Dritteln des Publikums war es auch nicht zu sehen. Weit vorne sitzend war man erstaunt, als sich neben Dirigent und Komponist noch die Theremin Vox-Solistin verneigte. Richtig, man hatte davon ja gelesen. Vielleicht wäre man doch besser zur Konkurrenz von „Paradisi Gloria“ gegangen.

Das letzte Stück des Abends im Herkulessaal vertrieb diese Gedanken wieder. Fausto Romitelli, der in den letzten Jahren vor allem durch Klaus Schedls Ensemble piano possibile einer wachsenden Hörerschaft bekannt gemacht wurde, starb 2004 mit 41 Jahren. An diesem Abend bestätigte „Dead City Radio. Audiodrome“ (2003, für Orchester) Münchens Engagement  für Romitelli.

Einfach gesagt verwendete Romitelli härtere Rockmusik und Elemente der Elektronik für seine Kompositionen, die klassisches wie populäres Instrumentarium mischten. Dies machte sich hier in immer variierten Riffs und Patterns bemerkbar, zu denen er den B-Moll-Cluster der Einleitung von Richard Strauss' Alpensinfonie verdichtete. Diese Verdichtungstechniken konfrontierte er mit leisem Flüstern in Megaphone, so dass man trotz des banalen Effekts nicht mehr an tote Städte, sondern das Knirschen von Gletschereis dachte. Es verkehrten sich die Welten: Elektronik klang real wie Radio- oder Mobiltelefongeräusche, Orchesterinstrumente nahmen die magische Aura von Elektronik an. Man erlebte Dichte im Ausdruck durch einfaches, aber gestaltreiches Material. So fühlte man sich denn bei Romitelli doch noch gut aufgehoben.                                                  

Alexander Strauch

Veröffentlicht am: 11.03.2011

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