Die indische Künstlerin Tejal Shah: Zwischen Sex und Gender - Eine Suche in Bildern
Erstmals in Deutschland zeigt die Barbara Gross Galerie in der Ausstellung "The Incidental Self" Arbeiten der indischen Künstlerin Tejal Shah, die sich mit den Fragen sexueller und sozialer Zugehörigkeit in den engen Grenzen des Gender-Denkens befassen.
Frauen in Zwangsjacken. Sie liegen am Boden, sind einzeln durch weiße, lang gezogene Ärmel an Gitter geknotet, über Treppen erstreckt oder auch miteinander verbunden. Die Fotoreihe "Encounter(s)", 2009 entstanden, zeigt Tejal Shah teilweise in Interaktion mit der Künstlerin Varsha Nair. Durch die langarmigen Zwangsjacken sind die Körper miteinander vereint und zugleich voneinander getrennt. Ein Symbol für die mediale Wirklichkeit, in der die Menschen heute leben: virtuell ist man sich nah, körperlich jedoch weit voneinander entfernt. Zugleich stehen die Bilder aber auch für die Schwierigkeiten der Menschen, die in Indien, einer der größten demokratischen Gesellschaften dieser Erde, leben und anders sind, durch ihre sexuelle Ausrichtung gegen gesetzliche Verbote oder gesellschaftliche Konventionen verstossen, gefangen sind in einer Nähe, die nur durch langärmelige Zwangsjacken entsteht, gelebt werden darf.
Tejal Shah wird 1979 in Bhilai geboren, wächst im zentralindischen Chhattisgarh auf. Das ist ein kleines Dorf, berichtet sie in einem am 22. Oktober 2011 anlässlich des Kunstwochenendes von Hans Ulrich Obrist, dem Co-Diektor der Serpentine Gallery, London, in der Galerie geführten Interview. Kunst gab es dort nicht zu sehen, und es gab auch keine Künstler in der Familie. 1995 geht sie nach Mumbay, das frühere Bombay. Allein in der großen Stadt, kein Geld, keine Verbindungen, berichtet sie. Auch Berührungen zur Kunst gab es nur wenige. Ganze drei private Galerien gab es, die ganz klassische Kunstwerke ausstellten. Sie kommt mit feministischen Zirkeln Zirkeln in Berührung, in denen "Frauen rauchten, tranken und sich offen über ihre sexuellen Neigungen austauschten." Fasziniert ist sie von dem Kampf der Frauen gegen sexuelle Gewalt. Tejal Shah geht zum Studium ins Ausland, erwirbt der Bachelor of Art in Fotografie am Royal Melbourne Institute of Technology und macht ein Aufbaustudium am Art Institute of Chicago.
Als sie zurückkehrte nach Bombay, hatten sich die Verhältnisse etwas verändert. Eine junge Generation indischer Künstler hatte mit neunen Medien zu arbeiten begonnen, abseits der Tradition kamen Fotografie, Film und Video zum Einsatz. Federführend war die Künstlerin und Frauenrechtlerin Romana Hussein, die auch Shah stark beeinflusste. Ihre künstlerischen Ausdrucksmittel sind vielfältig. Neben der Fotografie arbeitet sie mit Video, malt, zeichnet und veranstaltet Performances. Bekannt wurde sie unter anderem 2003 durch ihr Video "I love my India", in der sie der staatlich angeordnete Verfolgung der Minderheit indischer Muslime in Gujarat (2002) zum Thema machte. Tejal Shah lebt und arbeitet im Mumbay.
Das Bild einer nackten Frau? Zu sehen ist nur der Körper unterhalb des Halses, der Fokus liegt auf dem entblößten weiblichen Geschlechtsteil. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man die Brust eines Mannes. Die 2007 entstandenen Fotografien "Waiting I + II" bilden einen Transexuellen nach der Geschlechtsumwandlung ab und zeigen, dass die durch die bloße Abbildung von Genitalien vorgenommene Einordnung einer Person in eine sexuelle Zugehörigkeit trügerisch sein kann. Es ist das große Thema der Künstlerin , die selbst feministisch aktiv und homosexuell ist: Die Suche danach, wo der Mensch biologisch ("sex") und sozial ("gender") hingehört und wie er, hat er sich denn gefunden, in dieser Lebensnische erfüllt leben kann.
Eine in der Ausstellung gezeigte Video-Installation mit dem Titel "There is a Spider living between us" von 2009 versucht, sich der Thematik durch traumähnliche Sequenzen, filmische Tagebuch-Splitter, erotische Zeichnungen und in Worte gefasste Fantasien zu nähern, die Einblicke geben in intime Bedürfnisse und sexuelle Neugier der Künstlerin, die hier wieder mit Varsha Nair zusammengearbeitet hat.
Vieles von dem, was in der Ausstellung gezeigt wird, bleibt fremd für jemanden, der in einer Gesellschaft lebt, in der die Fragen sexueller Neigungen und daraus resultierender Ausgrenzungen und Unterdrückung weitgehend keine Rolle mehr spielen, in der diese von irgendwelche Konventionen abweichenden Lebensformen staatlich geschützt und sozial weitestgehend akzeptiert sind. Umso wichtiger ist es, dass vor Augen geführt wird, dass Frauen und Männer, die den Konventionen nicht entsprechen, tagtäglich um ihre Freiräume kämpfen müssen Die Ausstellung muss im Kontext der Lebensumstände der Künstlerin in ihrer Heimat gesehen werden. Es ist harter Stoff, den die Barbara Gross Galerie, sonst eher für Feinsinniges bekannt, dem Betrachter hier zumutet. Aber es ist wichtig, notwendig und deshalb sehenswert.
Bis zum 26. November 2011 in der Barbara Gross Galerie, Theresienstraße 56, 1. Hof in München, Di-Fr 11-18.30 Uhr, Sa 11-16 Uhr. Freier Eintritt.