Forschungsreise wider das Vergessen (3): Von Auschwitz nach Lublin

von kulturvollzug

Das Innere des SS-Bunkers Monowice. Foto: Paul Huf

Der Künstler Paul Huf tritt mit dem Zeitzeugen Ernst Grube, seiner Frau Helga Hanusa und der Autorin Renate Eichmeier die "Forschungsreise wider das Vergessen" an. Die Texte, die die Reisenden Tagebuchartig verfassen, erscheinen hier in ihrer Originalfassung.

 

10. 11. 2011: Renate Eichmeier: Heute Besuch in Auschwitz II-Birkenau. Ein Kleinbus von der Jugendbegegnungsstätte bringt uns hin. Vom Eingang aus überblicken wir nur einen Teil des Geländes, es reicht weit über den Horizont hinaus. Hier wurden über eine Million Menschen ermordet.

Der größte Teil des Konzentrations- und Vernichtungslagers ist nicht erhalten. Rechterhand: gute zwei Dutzend Holzbaracken, links etwa doppelt so viele Backsteinbauten, ansonsten hohe Elektrozäune, Wachttürme, Barackenreste, dazwischen große freie Flächen -  und die Gleise, auf denen die Züge mit den Deportierten aus ganz Europa ankamen. Auf Höhe der Rampe: Hinweistafeln mit Fotos ungarischer Frauen und Kinder vom Juni 1944. Die SS hat sie fotografiert. Verängstigte Menschen, verstörte Gesichter. Sie wurden in den Gaskammern sofort ermordet.

Es ist kalt. Wir beschließen, nur kurz zu bleiben.

Helga Hanusa und Ernst Grube mit Judith Hoehne (Mitte). Foto: Paul Huf

Helga Hanusa: Bei unserer Ankunft in der Jugendbegegnungsstätte haben wir Judith Hoehne getroffen, die hier in einem beruflichen Austauschprogramm tätig ist. Sie konzipiert und führt Workshops zu Auschwitz III-Monowitz durch. Begleitet von Judith erreichen wir das heutige Dorf Monowice. Zuvor waren wir kilometerlang vorbeigefahren am ehemaligen Buna-Werksgelände der IG Farben. Heute gibt es dort wieder eine riesige Chemie-Fabrik und weitere Gewerbe.

Die IG Farben haben das Dorf Monowice nach der Vertreibung seiner Bewohner zum KZ Standort für bis zu 11.000 Häftlinge bestimmt, die in Baracken und auch in Zelten zusammengepfercht waren. Um die Eroberungspläne des Deutschen Reiches zu bedienen, trieb die IG Farben die Kautschuk- und Treibstoffproduktion in den Buna-Werken voran. Unter für sie profitabelsten und für die Häftlinge tödlichen Bedingungen.

Heute ist davon am Ort nichts dokumentiert. Gleich bei der Einfahrt ins Dorf steigen wir auf der ehemaligen Lagerstraße aus und betrachten das Denkmal, das die Bewohner von Monowice „im ehrenvollen Gedenken an die Gefangenen im Lager IV in den Jahren 1941 bis 1945“ gewidmet haben.

Zeichnung von Paul Huf. Detail eines Eisenbahnwaggons.

Ernst Grube: „Jews selected by the SS for immediate death in the gas chamber of crematorium IV and V were herded along this road.” Bildunterschrift, Foto von ungarischen Frauen mit ihren Kindern

Dieses Foto der Kinder kann ich nicht ertragen. Ihre Haltung, der Ausdruck ihrer Augen, die Hände in der Hand ihrer Mütter – ihr gewaltsames Ende.

11. 11. 2011:

Renate Eichmeier: Noch gestern Abend sind wir in Oswiecim losgefahren, haben in Krakau übernachtet und sind heute morgen weiter nach Lublin. 4 Stunden entspannte Zugfahrt mit Zeit für Gespräche und Nachgedanken zu Auschwitz.

In Lublin herrscht Festtagsstimmung. Die Geschäfte sind geschlossen. Die Straßen mit polnischen Fahnen geschmückt. An Kiosken gibt es Blumen zu kaufen. Heute ist polnischer Nationalfeiertag. Es ist kalt, klar und sonnig.

Lublin. Hier befand sich die jüdische Altstadt, die nach Ermordung der Bewohner abgerissen wurde und durch diesen Platz ersetzt wurde. Foto: Huf

Die Altstadt wirkt weltoffen. Über Jahrhunderte führten hier Handelswege durch. Große Bürgerhäuser, Stadtpaläste und Kirchen wurden gebaut. Wir gehen Richtung Burg. Unter dem Stadttor „Brama Grodzka“ spielt ein Straßenmusiker Akkordeon. Bis zur deutschen Besetzung im September 1939 war hier der Eingang zum jüdischen Viertel. Ab dem Mittelalter war Lublin ein Zentrum des Ostjudentums. Berühmte jüdische Gelehrte unterrichteten an der Jeschiwa, der jüdischen Hochschule. Es gab viele jüdische Gebetshäuser, ein jüdisches Krankenhaus und ein jüdisches Waisenhaus.

Wir gehen durch die „Brama Grodzka“ und haben freien Blick auf die Burg. Das jüdische Viertel lag gleich unter dem Burgberg. Heute sind hier ein Parkplatz und eine Grünanlage.

 

 

Zeichnung von Paul Huf: Schild aus dem Einkaufszentrum, das auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers steht

Ernst Grube: Nach 6 Tagen unterwegs: in Theresienstadt, Auschwitz, Auschwitz-Birkenau und Auschwitz-Monowitz. Wir brauchen eine Pause, ehe wir morgen nach Majdanek fahren.

 

12. 11. 2011:

Renate Eichmeier:  Um 9 Uhr holt uns Wieslaw Wysock im Hotel ab. Er ist Mitarbeiter im Staatlichen Museum Majdanek und führt uns heute durch die Gedenkstätte.

Mit dem Taxi fahren wir auf der Straße von Lublin nach Chelm. Etwas außerhalb der Stadt steht auf der rechten Seite ein großes Monument: Hier ist der Eingang zur Gedenkstätte, die auf dem Gelände des ehemaligen KZs errichtet wurde. Etwa 70 Holzbaracken sind zu sehen. Wieslaw Wysock zeigt uns den Platz „Rosengarten“, an dem die Selektionen stattfanden, in unmittelbarer Nähe sind die Gaskammern. Zwei dunkle Räume, die schweren Eisentüren stehen offen, jede hat ein Guckloch.

Zyklon B - Dosen. Foto: Huf

Ab Spätsommer 1941 haben die deutschen Besatzer hier zuerst sowjetische Kriegsgefangene, dann vor allem polnische Juden gefangen gehalten. Die meisten wurden ermordet. Wer nicht in den Gaskammern starb, kam bei einem großangelegten Massaker ums Leben.  Am 3. November 1943 wurden unter dem Namen „Aktion Erntefest“ 18.000 Menschen erschossen.

Das KZ Majdanek war Zentrum eines Netzes von Lagern, in denen die „Aktion Reinhardt“ umgesetzt wurde: die systematische Ermordung aller Juden im  Generalgouvernement.

 

 

Spion in der Tür der Gaskammer. Foto: Huf

Ernst Grube: „Rosengarten“ wurde ein etwas abgesonderter Platz am Lagereingang genannt. Hier fand die Selektion aller Inhaftierten statt.

Wer als arbeitsfähig eingestuft wurde, durfte vorläufig weiterleben.

Frauen, die als arbeitsfähig eingestuft waren, und es nicht fertigbrachten, sich von ihren Kindern zu trennen, gingen zusammen mit ihnen in die angrenzende Gaskammer.

Willst du noch leben, wenn dein Kind ins Gas getrieben wird?

 

 

Veröffentlicht am: 14.11.2011

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