Pippo Delbono am Residenztheater - Ein Portrait
Für den Film- und Theaterregisseur Pippo Delbono war 2011 ein gutes Jahr: In Italien wurde seine Inszenierung „Dopo la battaglia“ als beste des Jahres mit dem Premio UBU ausgezeichnet, sein Film „Amore carne“ wurde zum Filmfestival in Venedig eingeladen. Bernardo Bertolucci holte ihn als Schauspieler für seinen jüngsten Film „Io e te“, und gerade hat man ihn - neben vier anderen Regisseuren - mit dem Spezialpreis des Europäischen Theaterpreises „für neue Theaterwirklichkeiten“ geehrt. Neue Theaterwirklichkeiten führt der 52-Jährige auch im Münchner Residenztheater ein: Er inszeniert sein gemeinsam mit den Darstellern entstandenes Projekt „Erpressung“, Uraufführung war am Samstag im Residenztheater.
Für Pippo Delbono, der mit seiner italienischen Truppe weltweit tourt und auch in Avignon und Paris arbeitet, ist es die erste Regie in Deutschland. Und das erste Mal, dass er nicht mit seiner Kompanie inszeniert, sondern seine Arbeitsweise der Improvisation mit fremden Darstellern ausprobiert. Ganz fremd ist ihm Deutschland nicht. 1986/87 hat er sechs Monate bei Pina Bausch an deren Tanztheater „Ahnen“ mitgearbeitet. Die große Choreografin gab ihm den Ritterschlag: „Du bist ein Schöpfer, ein Macher. Mach' deine eigenen Sachen. Du hast mehr Mut als ich“, sagte sie ihm, erzählt Delbono. Er gab 1987 mit „Il tempo degli assassini“ (Zeit der Mörder) sein Regiedebüt und gründete die Compagnia Pippo Delbono. Zu seinen wichtigsten Protagonisten zählt seit 1997 der heute 75-jährige Bobò, ein taubstummer Analphabet, der 45 Jahre in einer psychiatrischen Anstalt lebte. Bobò beherrscht nicht einmal die Gebärdensprache, versteht aber alles, erfühlt auch leiseste Musik und beeindruckt den Regisseur auf der Bühne durch ebenso große Präsenz wie Präzision. In „Erpressung“ ist Bobò in einem Video zu sehen.
Trotz weiterer Theaterstudien in Dänemark, China, Bali und Indien blieb für Delbono Pina Bausch seine wichtigste Lehrerin: „Sie hat mich auf den Weg gebracht und mir künstlerische Freiheiten eröffnet.“ Kein Wunder also, dass Musik (unter anderem von seinem langjährigen Mitarbeiter Alexander Balanescu) und Choreografie eine große Rolle spielen, und die Regieweise sehr körperorientiert ist. Marie Seiser, mit 26 die jüngste im Schauspielerteam, hat jahrelang in der TV-Serie „Familie Dr. Kleist“gespielt und ist jetzt erstmals fest am Theater. Für sie war das intensive Körpertraining eine neue Erfahrung: „Dadurch wird man sensibel für den Raum und den Rhythmus der anderen.“ Neu war ihr auch die Freiheit der Improvisation: „Das schafft eine andere Verantwortung: Was ist mein Thema, was interessiert mich?“ Denn für Pippo Delbono steht am Anfang immer nur ein Wort. Seine Arbeiten heißen „Schrei“, „Angst“ oder „Krieg“. „Das Wort ist wie ein Faustschlag“, erklärt der Regisseur, „es schickt dich auf eine Reise.“ Hier heißt das Wort: Erpressung. Wo und wie Erpressung geschieht, in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion (bis hin zur Vernichtung Andersgläubiger), in der Liebe und im ganz normalen Alltag, lässt er seine Schauspieler durch Recherchen und Improvisationen erkunden. Aus ihren Angeboten und Assoziationen entstehen Szenen, dazu kommen vielleicht klassische Texte. Bis zuletzt gibt es kein festgeschriebenes Skript - alles kann sich immer noch ändern. Doch die Premiere soll exakt durchkomponiert sein. Da spricht plötzlich der Bühnenherrscher: „Am Ende lege ich alles fest, jeden Blick! Und die Schauspieler dürfen nichts ändern!“ Geändert wird dann erst wieder mit ihm zusammen nach der Premiere.
Die Residenztheater-Dramaturgin Laura Olivi begleitet die Proben. Sie sieht Delbono als politischen Regisseur, der das Politische ebenso in der großen Historie wie in kleinen Alltäglichkeiten sucht und findet. „Erpressung gehört zu der Tradition, in der ich lebe“, sagt der Theatermacher. „Aber ich greife weder Italien noch Deutschland an, sondern die Leute, die auf Kosten der Schwächsten Gewinne machen.“ Ob aus all dem unterschiedlichen Material eine stringente Story entsteht, ist nicht Delbonos Problem: „Das Publikum muss nicht alles verstehen - ich verstehe selbst nicht alles. Aber solche Themen führen uns immer in Bereiche, die wir im Tiefsten alle teilen. Wichtig ist, dass es einen berührt. Wenn es das nicht tut, ist die Aufführung gescheitert.“