„Eisenstein almost lived here“
Ein Besuch beim internationalen Studentenfestival der Moskauer Filmhochschule VGIK. Unser Autor reiste als Laiendarsteller mit einer Theatergruppe der LMU nach Russland. Im Gepäck: 14 Quadratmeter Kunstrasen, sechs Neonröhren und eine antike Fiberglasbüste.
Schnurgerade ist die Ausfallstraße, die den Flughafen Domodedovo mit der Stadt verbindet. Eintönig ziehen Birkenwälder vorm Fenster vorbei, auf dem Standstreifen stehen in kurzen Abständen alte Wagen mit offener Motorhaube, daneben ihre Besitzer mit Zigarette in der Hand - geraucht wird viel in Russland, die Zigaretten sind billig.
Von den Villenvierteln, die sich die oberen Zehntausend hier angeblich vor der Stadt errichten, ist nichts zu sehen. Je näher man dem Zentrum kommt, desto breiter werden die Straßen. Mit 120 Sachen rasen die Autos durch diese Wüste aus Asphalt und Beton, Sicherheitsabstand scheint hier reine Platzverschwendung. Maxim, Kamerastudent an der Filmhochschule VGIK und unser Begleiter während der nächsten Woche, versucht mir später das seltsame Prinzip zu erklären: „You know, we have to go fast, because there are so many cars!“ Je mehr Autos, desto schneller muss man fahren also. Kaum im Hotelzimmer angekommen, tönt von der Straße ein lautes Hupen, Reifen quietschen, es scheppert – glücklicherweise nur ein Blechschaden.
Die akademische Wiege des Films
Das „Viktor Gerassimov Institut für Kinematographie“, gegründet 1919 und damit älteste Filmhochschule der Welt, liegt im tristen Nordosten Moskaus. In unmittelbarer Nähe ragt der Fernsehturm „Ostankino“ 537 Meter in die Höhe. Der Regisseur Sergej Eisenstein („Panzerkreuzer Potemkin“) ist der ganze Stolz der Schule. „Eisenstein almost lived here“, versichert uns in gebrochenem Englisch eine der jungen Organisatorinnen des Festivals. Sie steht sichtlich unter Druck. Alles soll perfekt sein - oder wenigstens so wirken.
Etwa 2000 Studenten aus überwiegend gutem Hause studieren am VGIK in den Studiengängen Produktion, Regie, Schauspiel oder Kamera. Einer von ihnen ist Conrad. Der Holländer hat Bauingenieurwesen studiert, entschied sich dann aber dafür, etwas anderes auszuprobieren. Er ist in seinem Leben viel herumgekommen, sein Vater arbeitet für ein internationales Unternehmen. Jetzt ist er im dritten Jahr seines Regiestudiums, kämpft aber immer noch mit seinem ersten Film. Als Ausländer muss man nicht das aufwendige reguläre Bewerbungsverfahren durchlaufen, sondern nur einen Russischtest bestehen. „I love it and I hate it!“, sagt Conrad über sein Verhältnis zu Moskau. Er wohnt mit einem iranischen Studienkollegen auf zwölf Quadratmetern im nahegelegenen Studentenwohnheim. Am Eingang trifft man auf das Russland der Gegensätzlichkeiten: Den Führerschein kann man sich bei den Stadtbeamten kaufen, aber am Eingang des Studentenwohnheims wird streng kontrolliert. Jeder Bewohner darf nur einen Gast mit auf sein Zimmer nehmen, nach 23 Uhr geht gar nichts mehr.
Endstation Hollywood
Conrads Kumpels von der VGIK sind weltoffene, moderne junge Russen, sie sind mit amerikanischen Filmen und I-Pods aufgewachsen. So auch Nikita, der besser Englisch spricht als die meisten anderen Studenten, denen ich begegne. Er meint das komme vom vielen Sega spielen. Seit er siebzehn ist arbeitet er wie sein Vater beim russischen Fernsehen. Familiäre Beziehungen sind in Russland wichtig, das gilt nicht nur für die Filmbranche. Nikita erklärt mir das mit dem russischen Sprichwort vom Sohn eines Majors, der später einmal General werden möchte. Der Vater antwortet ihm: “Das geht aber nicht, mein Junge, der General hat ja auch einen Sohn!“ Nikitas großes Vorbild ist Alik Sakharov, Kameramann bei den „Sopranos“, „Rome“ oder „Sex and the City“. Er hat es geschafft. Der Traum von Aufstieg und großer Karriere in Hollywood ist allgegenwärtig unter den Studierenden.
Die ehrwürdige Filmhochschule, benannt nach dem Schauspieler Viktor Gerassimov Foto: Simon Emmerlich
Einige der Dozenten und Professoren, die ihr Handwerk noch unter dem Sowjetregime gelernt haben, fühlen sich deshalb vor allem dem Wettkampfgedanken verpflichtet: Für sie ist der Hauptzweck des Festivals der Welt zu zeigen, was man in Russland leisten kann. Welche Filme Nikita später einmal machen will? „Hollywood Mainstream“, sagt er und grinst.
Das europäische Regietheater ist ja auch nicht immer der Weisheit letzter Schluss
Das Filmprogramm des Festivals ist schwer zu beurteilen. Englische Untertitel sind selten - und die englischen Filme werden live von einer älteren russischen Dame synchronisiert, so dass man auch hier nichts versteht. Das sorgt bei Intimszenen für Heiterkeit, erfordert aber auch sehr viel Durchhaltevermögen. Nach drei Tagen gebe ich schließlich auf und stürze mich lieber in das Gewühl dieser riesigen Metropole.
Den pompös barocken Kinosaal mit seinem sprichwörtlich babylonischen Sprachgewirr lasse ich hinter mir. Conrad beruhigt mich: „Erfahrungsgemäß verpasst man nicht viel.“
Und das Theater? Modernes russisches Regietheater gibt es nicht zu sehen. Die Schüler der renommiertesten Moskauer Akademien und Schauspielschulen zwängen sich in klassische Kostüme, kleben sich falsche Bärte an und spielen wie vor 150 Jahren: Mit großen Gesten, großer Emotion und vielen Tränen, die auf die Sekunde genau die Äuglein trüben. Die Abteilungen Schauspiel und Film stehen in einem schwierigen Verhältnis. „Sie wissen nicht, wie man mit den Augen spielt. Diese klassische Schauspielausbildung, diese großen Bewegungen, bringen für uns Filmleute überhaupt nichts“, meint Kameramann Nikita.
Man wagt es nicht, große Klassiker wie Tschechow anzutasten und in die Moderne zu übertragen. Das klingt nach einem überheblichen, vielleicht allzu europäisch geprägten Urteil - möglicherweise gefällt den Russen ihr Theater einfach so und das europäische Regietheater ist ja auch nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Doch es stimmt nachdenklich, junge Menschen in Stücken zu sehen, die die rasanten Veränderungen der russischen Gesellschaft so gänzlich ignorieren. Aber es passt in ein Land, wo dem der Kurator des größten Museums eine dreijährige Gefängnisstrafe angedroht wird, weil er unter anderem ein Bild von sich küssenden russischen Soldaten ausgestellt hat.
Für Auflockerung im Programm sorgt die Theatertruppe aus dem polnischen Lodz. Sie zeigen in ihrer Platonow-Adaption (ebenfalls Tschechow) Alkohol, Exzesse und viel nackte Haut im grell blinkenden Stroboskoplicht. Die Inszenierung der Polen ist die einzige, bei der der mexikanische Vorsitzende der Theaterjury nicht einschläft - am Ende ist das den Preis für das beste Ensemble wert.
Bühne von Alena Georgi zur „Antigone“. Nicht im Bild: Eine Fieberglasbüste, zwei Säcke Erde und eine Schubkarre. Foto: Simon Emmerlich
Prädikat: Anders
Auch unsere Antigone sorgt in gewisser Weise für Aufsehen. Wir spielen nach der Version von Jean Anouillh, ein Stück ohne Illusionen. „Es ist ein sehr seltsames Gefühl, 17 Minuten Monolog zu einem Publikum zu sprechen, wo du weißt: Die verstehen jetzt nicht ein einziges Wort von dem, was ich da sage“, meint Lars nach der Aufführung zu mir. Er spielt den König Kreon. Einige Zuschauer hatten das Theater verlassen, andere mit ihren Handys gespielt. Trotzdem meinen danach viele der russischen Studenten, es habe ihnen gefallen: „Wir bekommen hier so etwas sonst nicht zu sehen.“ Anders sind wir also, auch das scheint hier ein Prädikat zu sein.
Zum Abschluss feiert man sich nochmals mit einer kleinen Oscarverleihung im monumentalen „Kosmos-Kino“. „I am afraid, I have to tell you bad news.“ Es wird keine Auszeichnung in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ geben, erklärt der britische Regisseur Anthony Stark – und das beim groß gefeierten 30. Festival. In den Augen des Juryvorsitzenden Stark hatte keiner der dreizehn eingesendeten Filme einen Award verdient.
Ich schmunzle und denke zurück an Conrads Worte.
Simon Emmerlich
Die „Antigone“ Inszenierung in München: Am 7./8./9. Dezember um 20 Uhr auf der Studiobühne der Theaterwissenschaften München. Karten unter Antigone.Reservierung@gmail.com