"Gesäubert/Gier/4.48 Psychose" in den Kammerspielen: Düstere Poesie trifft auf Bilder der Entgrenzung
Isolation hat viele Gesichter (Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Marc Benjamin, Stefan Hunstein v.l.n.r.), Foto: Julian Röder
Ein Stück von Sarah Kane ist eine brutale Zumutung. Drei hintereinander ergeben einen großen Theaterabend: Johan Simons Inszenierung von "Gesäubert/Gier/4.48 Psychose" gehört zu den beeindruckenden Bühnenereignissen der letzten Zeit. Ein Tryptichon, in dem es eine der schwierigsten Theaterautorinnen der vergangenen Jahre neu zu entdecken gibt.
Einige Zuschauer sind gegangen, noch bevor sie "Gesäubert" hinter sich hatten. Man kann sie verstehen: Sarah Kane schrieb härtesten Stoff, was Themen und Sprache betrifft, und erst recht in ihrem herausfordernden Anspruch. Nicht genug damit: Sarah Kane schrieb auch noch schwieriges Theater, fast ohne (und später ganz ohne) Handlung, mit Figuren- und Dialogfragmenten, ohne bestimmten Ort, ohne Zeit – damit das Stück universale Geltung erhalte. Um den Menschen und seine Grundbefindlichkeit geht es, um seine Verzweiflung, seine Isolation und Gefangenschaft in sich selbst und sein Streben nach Liebe. Sarah Kane ist, kurz gesagt, eine der größten Zumutungen des Theaters, und das gewiss nicht deswegen, weil ihre Texte schlecht sind.
Das Ensemble der Kammerspiele und Intendant Johan Simons nehmen diese Zumutung an. Thomas Schmauser etwa ist ein grandioser Schauspieler. Nur, ihm zuzusehen, wie er sich in kotbeschmutzter Unterhose windet, ihm beim quälend langsamen Zählen zuzuhören, von eins bis – weiter als von Kane vorgesehen – zweiundfünfzig, um dann zu erleben, wie er von neuem beginnt: das fordert. Und ist dennoch gewissermaßen Einstimmung. Für Sarah Kane muss man innere Atmosphäre aufgebaut haben. Diese Umkonfigurierung nimmt Simons sehr ernst, schon in der seltsamen Vieldeutigkeit, mit der er die Figuren anlegt. Schmauser, er spielt zunächst den Analphabeten Robin, ist mal gescheiterter Erlöser, mal ähnelt er in einem Kleid, mit seinem langen Vollbart und mit dem Rechenschieber in der Hand, einem antiken Sänger mit der Lyra: Ein Deuter, der die Richtung verloren hat. Darauf muss man sich einlassen.
Vieldeutigkeit der Figuren
Die Regieanweisungen solcher Stücke wie "Zerbombt" oder "Gesäubert" wörtlich zu nehmen, hieße extreme Gewalt auf die Bühne bringen. Simons aber deutet Gewalt nur an. Man sieht bei "Gesäubert" so etwas wie eine Schulklasse, die sich gegenseitig anmopst und Spiele der Gewalt spielt. Annette Paulmann ist so etwas wie der Bully in dieser Klasse; in Schulmädchenuniform spielt sie Tinker, diesen Therapeuten, Dealer und Foltermeister in einer namenlosen Anstalt. Jeder Insasse liebt hier einen anderen, und Tinker testet, wie weit diese Liebe geht. Er/sie ist ein teuflischer Sadist, der am Ende doch durch die Liebe erlöst werden will.
Simons zeigt diese Tiefe und vermeidet den Overkill. Für Elektroschocks braucht Annette Paulmann keine Elektroden. Sie legt die Hände an den Kopf des Delinquenten und ahmt die Folter wie in einem Kinderspiel nach: "Brzzzzzzzz". Am Ende ist niemand wirklich gehängt worden, wurde niemandem ein Pfahl in den Hintern gerammt, haben Ratten keine Körperteile von der Bühne geschleppt. Und dennoch hat das Kopfkino bereits angefangen, Bilder äußerster Entgrenzung zu entwerfen.
Warum Simons drei Kane-Stücke an einem Abend zeigen muss, wird in "Gier" deutlich. Es geht ihm nicht darum, das Portrait der depressiven Ausnahme-Autorin Kane zu malen, ein Bildnis, das notwendigerweise das Wissen um ihren Freitod einschließen müsste. Nein, Simons zeigt die zunehmende Musikalität der Stücke der Britin, die schließlich tradierte Formen des Theaters in Poesie auflöste. Eine düstere Poesie, eine, die den Zuschauer zutiefst ergreift und ihm einen kalten Lichtpunkt lässt: Es geht um Liebe, sonst nichts. Und es geht darum, wie eben diese Liebe Menschen verzweifeln lässt.
Angespannte Düsternis
In "Gier" sehen wir Sylvana Krappatsch, Marc Benjamin, Stefan Hunstein und Sandra Hüller. Irgendeine Erinnerung, ein unaufgelöstes Verhältnis hat diese Vier nebeneinander geführt. Und nun sitzen und stehen sie da und reden virtuos durcheinander, aneinander vorbei und folglich folgenlos: sie werden keinen Kontakt zueinander aufnehmen können, sie werden für immer verdammt sein, auf sich selber zurückgeworfen zu sein. Das seltsame Nebeneinander führt zu komischen Treffen der Worte – man lacht als Zuschauer und fällt doch gleich in eine angespannte Düsternis zurück. In der Sprache finden wir keine Richtung mehr, noch viel weniger Hoffnung. Ein weißer, kalt leuchtender Himmel aus Papierröhren senkt sich langsam auf die Bühne (Eva Veronica Born). Das könnten Konkons für Träume sein, die irgendwann schmetterlingsgleich in die Höhe flattern. Allein, dazu kommt es nicht. Regen stäubt aus dem Schnürboden und weicht das Papier auf, bis es wie Kerzenwachs auf die Bühne tropft. Die Aufhängeringe schweben weiter über der Bühne wie eine namenlose Folterapparatur.
Theater löst sich in Poesie auf (Sylvana Krappatsch, Sandra Hüller, Marc Benjamin, Stefan Hunstein v.l.n.r.), Foto: Julian Röder
Der Abend steigert sich so an Intensität, bis zum grandiosen Finale in "4.48 Psychose". Einen fünfundsiebzig Minuten langen Abschiedsbrief nannte ein erschütterter britischer Kritiker dieses Textgewebe, dessen Uraufführung Sarah Kane am 23. Juni 2000 tatsächlich nicht mehr miterlebte: Kurz nach Fertigstellung des Stückes setzte sie ihrem Leben ein Ende. In einer bestimmten Phase eines schweren depressiven Schubs hatte sie erlebt, dass stets um 4.48 Uhr die Wirkung der Medikamente verblasste und sich der Augenblick größtmöglicher Klarheit einstellte. Wohl damit auch ihre Erkenntnis, dass es für sie nur einen Weg gab, sich ihrer Lebensqual zu entziehen.
Simons aber inszeniert keinen Abschiedsbrief, er stellt eine Wort-Partitur auf die Bühne. Ein Quintett spielt von Carl Oesterhelt komponierte Musik – sie hat in ihrer Form, an dieser Stelle so viel Berechtigung wie selten Musik fürs Theater. Schmauser und Hüller haben bei den Musikern Platz genommen, vor Schmauser steht ein Notenpult. Schließlich ist seine Stimme ein Instrument in diesem mehrstimmigen Werk. Ein Instrument? Ach, viel mehr: Sie gibt das Thema vor, von Schmauser in meisterhafter Intensität gesprochen. Ganz nah sind wir bei dieser an sich gesichts- und figurenlos angelegten Stimme.
Keine leeren Gesten
Die famose Sandra Hüller spricht die letzten Zeilen dieses starken Textes, die Bewegungen ihrer Hände folgen der Typographie in der deutschen Druckausgabe dieses Gedichts. Es sind natürlich keine leeren Gesten, nicht in dieser Todesfuge: Paul Celan und Kane stehen auf einmal dicht nebeneinander. Eine stille Spur zu Sarah Kanes Feststellung, dass sich der unglücklich Liebende wie in einem Todeslager eingesperrt wähnt. "Bitte öffnet den Vorhang" lauten die letzten Worte. Das Bühnenlicht verglimmt. Im Hintergrund leuchten starke Scheinwerfer auf. Die Gestalten auf der Bühne vergehen im Dunkel - und sehen das Publikum hell angestrahlt vor sich. So beeindruckend wie an diesem Abend hat man den Blick auf die andere Seite noch nicht erlebt.
Ein gewagter und berührender Abend, ein unglaubliches Finale. Und danach verdienter Jubel für Johan Simons und seine Schauspieler, für einen der stärksten Münchner Theaterabende der vergangenen Jahre.
In einer früheren Fassung dieser Kritik nannte ich das Stück fälschlich "Gereinigt" statt "Gesäubert" . Ich bitte, dieses Versehen zu entschuldigen.