Maximilian Brückner gibt mit „Magdalena“ sein Regiedebüt am Volkstheater: Ein Vater tötet sein Kind und keiner weiß warum

von Barbara Teichelmann

Das Dorf trinkt Bier und feixt, während die gute kranke Mama (Ursula Burkhart) für ihr Kind kämpft (Foto: Arno Declair)

Mariann hustet. Die Gewissheit, dass sie wegen der Husterei bald sterben muss, bekümmert sie nicht, aber, dass ihr einziges Kind „schlecht worn is“, das treibt sie um und macht sie ganz krank. Also bittet sie den Pfarrer um Rat. Der spricht von „Reichtümern im Himmel“. Doch Mariann ist hartnäckig und bohrt ungläubig hinterher: „Unser Herrgott kann doch nicht so schnell fertig sein mit einem Menschen?“

Mag sein, aber der Pfarrer, der kann das eben schon. Weiter geht’s ins Wirtshaus, und außer, dass ein paar mehr Lichter angehen und das Radio zu spielen beginnt, muss nichts umgebaut werden, weil die Kirche quasi schon das Wirtshaus ist und andersrum. An den Biertischen mit den karierten Tischdecken sitzt die Dorfjugend in karierten Hemden, der Bürgermeister ist auch schon da, der Pfarrer sowieso, an der Wand hängen Hirschgeweihe. Fertig ist ein bayerisches Bilderbuchdorf. Nur der missratene Nachwuchs stört das Idyll. Solange die Mama und mit ihr der Glaube an einen guten Kern im Schlechten lebt, gibt es eine theoretische Chance auf Neuanfang, kaum ist Mariann tot, schnappt das patriarchalische Prinzip zu und das Blut kann fließen.

Ein schlechtes Kind in schlechter Gesellschaft

100 Jahre ist es her, dass die „Magdalena“ zum ersten Mal von ihrem Vater erstochen wurde: Ludwig Thomas Volksstück über ein schlechtes Kind in schlechter Gesellschaft, am 12. Dezember 1912 in Berlin unter der Regie von Victor Barnowsky uraufgeführt, hatte trotz bayerischem Lokalkolorit sogleich Erfolg. Theaterkritiker Alfred Kerr sprach von „Urmächten“ wie bei den „alten Tragikern“. Von diesen Urmächten ist in Maximilian Brückners Regiedebüt  nicht viel zu spüren, dafür stellt sich ein mächtiges Unverständnis ein für das Tragische, das da seinen Lauf nimmt.

Die Tochter wird zum Sohn: Florian Brückner spielt den missratenen Leonhard (Foto: Arno Declair)

Dabei hat Brückner Modernisierungsarbeit geleistet und aus der gefallenen Magdalena kurzerhand einen sündigen Leonhard gemacht. Aber selbst wenn männliche Prostitution noch ausreichend tabuisiert wird, reicht diese Aktualisierungsmaßnahme nicht aus, das Stück und seine ehemalige Dringlichkeit ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Auch im hintersten Winkel haben sich die Dinge geändert: Die Kirchen bleiben selbst sonntags ziemlich leer, Dorfgemeinschaften zerbröseln, und Wirtschaften sperren zu, weil man jetzt abends im Fitnessstudio trainiert oder sich im Internet Gesellschaft sucht. Wie also kann man heute noch glaubwürdig erklären, dass gesellschaftliche Umstände einen ländlichen Vater dazu bringen, seinen Sohn zu erstechen, weil der in der Stadt als Stricher gearbeitet hat? Zudem Prostitution nicht mehr strafbar ist. Egal wie rum man denkt, da klafft ein Loch.

Dieses Loch und damit die Realität zu ignorieren, ist eine Möglichkeit, weshalb sich die Landbevölkerung auf der Bühne durchwegs zurückgeblieben dimpflhaft verhält. Der Bürgermeister (Alexander Duda) ist erwartbar gerissen, der Kaplan (Peter Mitterrutzner) erwartbar scheinheilig, die Dorfjugend erwartbar deppert und gemein, die Magd (Mara Widmann) zwar hübsch fleißig aber erwartbar feig usw. Klar, die Rollen sind so angelegt, aber eben dieses stereotype bajuwarische Puppentheater hätte man aufbrechen, genauer hinschauen und zeitgemäß inszenieren können.

Grobmotorische Raserei und fliegende Biertische

Wenn es nicht die moralische Gesellschaft ist, die den Vater in den Mord treibt, dann muss die Erklärung in ihm selbst liegen. Aber was auch immer in ihm vorgehen mag, man erfährt es nicht, dafür rumpelt und pumpelt es gewaltig, denn die zunehmende Verzweiflung des Vaters, gespielt von Wolfgang Maria Bauer, macht sich ausschließlich in grobmotorischer Raserei sowie in fliegenden Biertischen bemerkbar. Aber zunehmende Lautstärke bedeutet nicht zunehmende Intensität und so rückt man genervt ab von dieser schwachen Vaterfigur, die sich und ihrem Kind nicht zu helfen weiß und deshalb bereitwilligst und voller Selbstmitleid in einer Schambehauptung versinkt, die man nicht nachvollziehen kann.

Vater (Wolfgang Maria Bauer) wütet gleich wieder, Sohn (Florian Brückner) raucht und schweigt (Foto: Arno Declair)

Ironischerweise ergeht es dem verlorenen Sohn ähnlich: Ihm ist das angebliche Ausmaß der Schande, dass er über seine Familie gebracht hat nicht klar: Was geht mein Leben die anderen an? Er erfreut sich einer seltsamen Naivität, die 1912 befremdlich bis begriffsstutzig gewirkt haben mag, in dieser Inszenierung aber durchaus angebracht ist. Florian Brückner, der Bruder des Regisseurs, spielt den traumwandlerischen Sünder zwar voller Kraft und Saft, lässt ihn im richtigen Moment aber auch zerbrechlich schwach und durchscheinend fein sein, was ihn zur interessantesten Figur macht. Wie er erst großspurig um die Zenzi buhlt und, als ihm die Magd kühl und angewidert einen Korb umhängt, zum hilflos kleinen Zappler schrumpft, das ist zutiefst menschlich und berührend.

Das schöne am Münchner Volkstheater ist, dass der Intendant Christian Stückl immer wieder Neues wagt und die Jungen machen lässt. Das Regiedebüt des Schauspielers Maximilian Brückner ist so ein Experiment, und als solches möchte man es nicht missen. Aber schade ist es schon, dass der bekennende Oberbayer und leidenschaftliche Landbewohner der unmotivierten Wucht und anachronistischen Klischeehaftigkeit des Stückes so wenig Eigenes entgegenzusetzen hat.

Nächste Vorstellungen von "Magdalena" am 3., 4., 17. und 18. März 2012 im Volkstheater

Veröffentlicht am: 26.02.2012

Über den Autor

Barbara Teichelmann

Redakteurin

Barbara Teichelmann ist seit 2011 beim Kulturvollzug.

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