Wolfgang Herrndorfs Roman auf der Bühne

Dresdener Tschick bei "Radikal Jung" - Hinreißender Roadmovie

von Michael Weiser

Drei auf der Rolle: Sebastian Wendelin, Benjamin Pauquet, Lea Ruckpaul. Foto: Matthias Horn

Die Adaption eines Jugendroman, die im Volkstheater alle Alterklassen begeisterte: Jan Gehlers Dresdener Inszenierung von Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" überzeugte bei "Radikal Jung" mit einfachsten Mitteln. Bestes Theater, dessen größter Aufwand in der kleinen, feinen Geste liegt.

Maik ist ein Außenseiter. Tatjana findet er "superporno", sie jedoch hat keinen Blick für ihn übrig. Auch auf ihre Party ist er nicht eingeladen, obwohl er ihr ein Beyoncé-Bild gezeichnet hat, "mit Tatjanas Augen". Und dann kommt auch noch Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, "ein Assi", den Maik nicht leiden kann. Ein Außenseiter wie er, allerdings mit der Aura des Geheimnisvollen: in der Schule meistens zugedröhnt oder schlafend, offenbar hoch intelligent, die Mitschüler tuscheln von Verbindungen zur Russen-Maffia. Ausgerechnet am Tag von Tatjanas Geburtstag schaut er bei Maik vorbei, in einem geklauten Lada. Er überredet Mai, die Zeichnung doch persönlich abzugeben - und es beginnt ein Roadmovie durch den Osten Deutschlands.

Der Roman von Wolfgang Herrndorf spielt eigentlich in den 80ern. Davon ist in Robert Koalls Bühnenfassung für das Staatsschauspiel Dresden nichts zu bemerken, sie ist eher zeitlos, sieht man von eher beiläufigen Erwähnungen von Google oder Facebook und einem in das Holz eines Baumes geschnitzten Datums ab. Die Zeit spielt keine Rolle, denn es geht um die ganz spezielle Zeit von Maik und Tschick und später auch noch Isa, die auf ihrem Trip ihren persönlichen Aufbruch erleben.

Radio-Auto: So wird aus einem Radio ein Vehikel. Foto: Matthias Horn

"Tschick" ist eine Geschichte voller absurder Situationen, mit viel Witz und Tempo - und  eben deswegen eine große Herausforderung. Regisseur Jan Gehler verwendet einfache Mitteln, aber die  mit viel Phantasie und großer Genauigkeit. Das Bühnenbild besteht aus einer grauen Welle, die alles mögliche sein kann: eine Wiese, ein Ufer, ein Stück Straße, Mauer (Bühne: Sabrina Rox). Ein Ghettoblaster wird zum zentralen Requisit - die Ähnlichkeit zum Kühlergrill eines altmodischen Autos springt in die Augen. Die beiden Freunde nehmen darauf Platz, und im Kopf des Betrachters beginnt ein Film zu laufen, so lebendig, dass man vermeint, den Fahrtwind durchs geöffnete Seitenfenster zu spüren. Und wenn Maik Tschick das Beyoncé-Bild zeigt, glimmt auf einmal warmes Licht um die beiden herum. Auf einer Müllkippe - die beiden Freunde suchen einen Schlauch, um Benzin zu stehlen - begegnen sie Isa. Sie beginnt zu singen, die beiden anderen setzen nach und nach ein und geben den Beat auf einem Benzinkanister dazu: So einfach und so nachvollziehbar wird hier der Beginn einer Freundschaft geschildert. Wie die Drei irgendwann nach einem Bad im See am Ufer sitzen, Maik in der Mitte, Tschick und Isa zu seinen Seiten, ihre Köpfe auf seinen Oberschenkeln ruhend - das ist ein romantisches Bild von zeitloser Schönheit.

Die Schauspieler - vor allem Benjamin Pauquet als Maik Klingenberg, Sebastian Wendelin als Tschick und Lea Ruckpaul als Isa - sind hervorragend und verleihen ihren Figuren mit wenigen Gesten, der richtigen Betonung und dem richtigen Zögern im Text Konturen, mit einer Selbstverständlichkeit, die bei Mittzwanzigern, die 14-Jährige spielen sollen, überrascht. Tatsächlich hat Regisseur Gehler  seine beiden Hauptdarsteller auf einen Trip im Auto geschickt, auf Erlebnistour, samt Wendelins täuschend echtem russischen Akzent.

Man erfährt viel von Maiks verkrachtem reichen Elternhaus. Es ist ja auch seine Geschichte, einem Freund gewidmet, der im Rückblick für ihn zum Katalysator wurde. Von Tschick erfährt man wenig. Er landet im Heim und skizziert in wenigen Worten die Zurückweisung, die Ablehnung, die Migranten wie ihm widerfährt. "Tschick" ist dennoch kein politisches Stück. Es ist Sturm und Drang, ein Spiegel, in dem junge Leute die Nöte ihrer Gegenwart und etwas Ältere das Glück der Vergangenheit erkennen.

Regie: Jan Gehler; Bühne: Sabrina Rox; Kostüm: Cornelia Kahlert; Licht: Andreas Rösler; mit: Benjamin Pauquet, Sebastian Wendelin, Lea Ruckpaul, Anna-Katharina Muck, Holger Hübner.

Nächste Vorstellung bei "Radikal Jung": "This is my father", heute um 19.30 Uhr.

Veröffentlicht am: 27.04.2012

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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