Eröffnungswochenende Dance 2012
Steinalt und auf Krücken zum Schattenspiel
Ein Steckspiel aus Steinen, geisterhafte Leinwände, Krücken und Rollatoren: In den ersten vier Tagen des Dance-Festivals wurde nicht mit Schaueffekten gegeizt. Sidi Larbi Cherkaouis "Puzzle", in einem Steinbruch bei Avignon uraufgeführt, eröffnete das Festival mit fulminanten Corpsszenen. Es folgten Richard Siegals rätselhafte Uraufführung "Black Swan" und Marie Chouinards "Body Remix".
Man darf sich keine Illusionen machen, in einer herkömmlichen Theaterumgebung verblasst die Wirkung des viel gelobten "Puzzle" zu einem guten Teil. Trotz Grillenzirpens vom Band entfalten die Beleuchtung und die Filmprojektionen keine so spektakuläre Wirkung wie unter dem südfranzösischen Himmel. Dramatisch ist der Unterschied bei der musikalischen Begleitung: Dem korsischen Chor A Filetta und der libanesischen Sängerin Fadia Tomb El-Hage fehlt es im geschlossenen Theatersaal schmerzlich an Weite für ihre Stimmgewalt.
Ein großer Wurf bleibt „Puzzle“ trotzdem. Mensch und Materie ist das Thema, und Cherkaoui manifestiert es beeindruckend an einem Puzzleset aus großen Blöcken, kleinen Würfeln und Pflastersteinen. Seine elf Tänzer beten die Steine an, folgen ihnen, wollen in sie hinein kriechen oder schieben sie zu fantasievollen Bauwerken neu zusammen. Es ist erstaunlich, wie sorgfältig und genau diese Volksszenen choreografiert sind. Synchronizität und perfektes Zusammenspiel waren bisher kein Kennzeichen des zeitgenössischen Tanzes, nun hat sich jemand darauf besonnen. Das Ergebnis sind spektakuläre Effekte. Es umgibt sich etwa eine Gruppe mit einer Mauer aus Steinblöcken, wirft diese dann explosionsartig beiseite und trägt nur noch eine Tafel mit einer Tänzerin obenauf. Zur Flöte des Japaners Kazunari Abe gelingen hoch ästhetische Bilder. Die Gruppenszenen sind dabei den Solos und Pas-de-Deux weit überlegen, es wird gerollt, getaumelt, gehüpft, in herrlichster Eintracht. Nur Teamgeist lässt den Menschen in der Materie bestehen!
Dass sich Cherkaoui gegen Ende verfranzt, seine Protagonisten von Bildhauern wie Steine schlagen lässt, unbedingt noch ein steinernes Herz brechen und steinerne Tränen weinen lassen muss, tut dem Stück weniger gut. Fast zwei Stunden Spielzeit kommen dabei heraus, was, nicht zuletzt auch angesichts des intensiven Gesangs, zu lang ist. Die immer neuen Arrangements der Steine, die anfangs, ästhetisch beleuchtet, erstaunen (Bühne: Filip Peeter, Licht: Adam Carrée), werden dabei schleichend zum Ausdruck vergeblicher Mühe und endloser Sinnsuche. Der Ungewöhnlichkeit von „Puzzle“ tut das aber keinen Abbruch. Wann hat sich der Tanz, der die Materie doch stets überwinden wollte, schon zum Stofflichen bekannt?
Richard Siegal, Choreographer in residence an der Muffathalle, ließ mit seiner Uraufführung von "Black Swan" dagegen Teile des Publikums ratlos zurück.Vielleicht hätte man von "Rent an Expert" Gebrauch machen sollen, jenem Expertenservice, der bei Dance 2012 angeboten wird: Man kann da einen Tanzwissenschaftler anheuern, der einem erklärt, was man eben gesehen hat. Bei Siegal hätte man auch noch einen Anglizisten gebraucht, einen Lyriker, einen Musikwissenschaftler, einen Multimediamann und einen Philosophen. Vielleicht war das Problem, dass der hervorragende Tänzer Richard Siegal zu wenig tanzte und zu viel wollte: einen Diskurs über das Wesen der Choreografie anstiften und dazu noch die Welt erklären. Und das, wie im Höhlengelichnis, durch Projektionen auf einen weißen Tuchzylinder, der von der Decke der Muffathalle herabhängt.