Sibylle Berg liest im Volkstheater
Sozialer Realismus in schrillem Kostüm
Katja Riemann, Sibylle Berg und Sebastian Schwab sitzen ganz in schwarz auf einer schwarzen Bühne, die mit Unmengen von bunten Plastikblumen beklebt ist, und stellen ein Buch vor, das genauso ist wie diese Bühne: tiefschwarz und doch bunt in seinen zynisch-skurrilen Spitzen. Die Autorin und die beiden Schauspieler lesen im Münchner Volkstheater aus Sibylle Bergs neuem Roman „Vielen Dank für das Leben“. In dem Buch treibt Berg einen Zwitter, der in den 1960er Jahren in der DDR geboren wird, durch mehrere Jahrzehnte trister deutscher Geschichte.
„Ich habe nie ein Kind gewollt, das macht keinen Sinn“, sagt die Mutter bei seiner Geburt. „Der Satz ist grammatikalisch unrichtig“, ist das Einzige, was die Hebamme dagegen einzuwenden hat.
Sibylle Berg selbst spricht zu Anfang der Lesung wenig, überlässt einen Großteil des Textes Katja Riemanns geschulter Stimme. Die Aussage der Mutter stößt Berg nun leise und verschüchtert hervor – die Worte allein haben genug Kraft.
Auf einer Leinwand an der Bühnenrückwand läuft währenddessen ein Schwarz-Weiß-Video, das in wilden und verwackelten Kamerafahrten eine sich in Krämpfen windende Frau mit Kopfverband zeigt, eine Gebärende wider Willen.
So beginnt die Geschichte eines Menschen, der in seinem Leben immer nur Pech haben wird und doch in herzensguter Selbstlosigkeit für alle immer nur das Beste will. Toto ist von Anfang an zu groß, zu dick, zu wenig Junge und zu wenig Mädchen. Er wächst in einem zugig-kalten Kinderheim auf, muss auf einem heruntergekommenen Bauernhof schuften und landet – mehr durch Zufall als durch Eigeninitiative – in einer Junkie-WG in Westdeutschland.
Hass und Ärger sind ihm trotz aller Widrigkeiten fremd; er tut, was getan werden muss. Umso mehr entzünden sein Auftreten, seine Gemütsruhe und sein ungewöhnliches Äußeres den Hass seiner Mitmenschen. Sein seltsam schöner Gesang, der ihn abkapselt von der Hässlichkeit der Welt, ist seiner sozialen Integration nicht gerade förderlich.
Den Part des singenden Toto übernimmt bei der Lesung die junge Berliner Performance-Künstlerin Mary Ocher. Im traurigen Karo-Sakko, mit strohig-weißer Perücke und Riesenbrille setzt sie sich hängeschulterig ans bereitstehende Klavier. Laut und eindringlich singt sie zu kraftvoll-schrägen Piano-Akkorden auf englisch über letzte Umarmungen, Wundernebel und Sehnsüchte. Ein ebenso faszinierender wie befremdlicher Auftritt, der einen nachfühlen lässt, welche Reaktionen ein übergewichtiger, laut singender und dabei vor Rührung weinender Hermaphrodit hervorrufen kann.
Sibylle Bergs Toto ist ein Fremdkörper in einer Welt, in der die erfolgreiche Selbstdarstellung immer wichtiger wird; einer, dem unklar ist, nach welchen Spielregeln die zwischenmenschlichen Machtkämpfe des Alltags ausgefochten werden; einer, den die Leute nicht einordnen können und der durch bloße Anwesenheit provoziert.
Sibylle Berg übernimmt als Erzählerin diese Perspektive des Fremden, um über unzählige kleine Details großer gesellschaftlicher Entwicklungen zu reflektieren. Es geht da um spießbürgerliche Reihenhaussiedlungen, verbitterte Frauen, die früher einmal für mehr Gleichberechtigung gekämpft haben, und Pflegeheime, in denen keiner Zeit hat für eine tröstende Berührung. Sibylle Berg distanziert sich von alldem und fühlt doch gleichzeitig mit ihren Figuren. Diese besondere Mischung von kritischem Zynismus und menschlicher Empathie macht den dunkelgrauen sozialen Realismus von „Vielen Dank für das Leben“ auf schwarzer Bühne erträglich und sogar vergnüglich.
Das schrille performative Beiwerk aus Videoeinblendungen und musikalischen Zwischenspielen mag man mal als wirkungsvolle Illustration, mal als überflüssige Doppelung empfinden – das, was an diesem Abend am meisten überzeugt, bleibt Sibylle Bergs Text. Selten hat man düsteren Überlegungen mit so viel Spaß gelauscht.
Katrin Kaiser
Sibylle Bergs Roman „Vielen Dank für das Leben“, der am 11. November 2012 im Münchner Volkstheater vorgestellt wurde, ist bei Hanser erschienen, hat 400 Seiten und kostet 21,90 Euro.
Anmerkung 21.11.2012, 21 Uhr: Das zu diesem Text zunächst vorhandene Foto der Fotografin Katharina Luetscher wurde aufgrund der Veröffentlichungsbedingungen der Urheberin beziehungsweise des Verlages wieder entfernt. Wir bedauern, dass wir deshalb unseren Lesern nun kein Foto mehr zeigen können.