Interview mit "Dispatch" aus Boston
„Die größte Band, von der noch nie jemand etwas gehört hat“
Jahrelang verweigern sie sich allen Plattenlabeln und werden trotzdem, oder gerade deshalb zum Indie-Phänomen: Dispatch - das sind Chad Urmston, Brad Corrigan und Pete Francis aus Boston. Kennengelernt am College, machen die begnadeten Musiker eine einzigartige Mischung aus Rock, Funk, Folk und Reggae. An den etablierten Fernseh- und Radiosendern vorbei, wird Dispatch - auch dank der damals boomenden Filesharing-Plattform Napster - zum Geheimtipp und kann so in den ersten Jahren eine gewaltige Fangemeinde entwickeln. Noch heute sprechen sie von sich als „Die größte Band, von der noch nie jemand etwas gehört hat“: Zu ihrem (vorläufigen) Abschiedskonzert 2004 kommen mehr als 110.000 Fans und legen die Bostoner Infrastruktur lahm. Ihr Benefiz-Konzert für Zimbabwe 2007 im Madison Square Garden ist drei Abende in Folge ausverkauft.
Da sie es sich in den zehn Jahren Pause nie für mehr als drei Jahre verkneifen können wieder gemeinsam aufzutreten, sind sie seit letztem Jahr endgültig zurück: mit dem neuen Album „Circles Around The Sun“; und zum ersten Mal sind sie in München zu Gast. Kulturvollzug hat mit ihnen vor ihrem Konzert im Backstage gesprochen.
Der Tourmanager muss die vollkommen übernächtigten Männer wecken. Zerzaust, verquollen und mit roten Augen kommt Dispatch in den Cateringraum getrottet. Erster existenzieller Impuls: Kaffee! Der zugehörige Vollautomat macht zwar unglaublichen Lärm, spuckt aber nichts aus - bis Pete und Brad anfangen ihn effektvoll anzubeten und intensive Melkbewegungen in die Luft zu machen. Man beginnt zu begreifen, warum die drei von sich behaupten zusammen eine, mehr oder weniger freiwillige, Monty Python-Dyamik zu entwickeln und freut sich auf das, was da kommen mag.
Wie ist euer erster Eindruck von Europa nach den ersten paar Konzerten?
Brad: Ich finde es wunderbar - die Menschen, die Kultur. Das ist alles neu für uns. Für uns gibt es jeden Tag eine neue Stadt zu entdecken.
Pete: In Wien waren wir im Leopold-Museum und haben den Stephansdom gesehen. Es ist eine sehr schöne Stadt. Etwas Vergleichbares gibt es in den Staaten nicht.
Brad: Und wir haben dort in so diesem kleinen Keller geprobt. So ein winziger Raum im Keller und dann kommst du wieder raus und da ist das wunderschöne Wien. Wir proben jetzt nur noch in Wien!
Wie war es, nach der langen Pause, nach über zehn Jahren wieder gemeinsam Musik zu machen?
Pete: Es war eine tolle Erfahrung, wieder im Studio zu sein!
Brad: Falsch! (Gelächter)
Pete: Wir waren definitiv andere Menschen, die eine ganz andere Energie und andere Ideen mitgebracht haben. Wir hatten eine tolle Zeit in einem sehr schönen Studio in New York und haben auch in einem coolen Haus in Bridgeport, Conneticut gearbeitet.
Chad: Ich denke, dass wir erkannt haben, dass wir so eng aufeinandersaßen während der ersten sechs Jahre von Dispatch, und dass wir eigentlich vom richtigen Leben keine Ahnung hatten. Während unserer Auszeit haben wir dann eine andere Perspektive auf die Dinge bekommen. Wir haben gelernt den Anderen zu schätzen und sich nicht über ihn zu ärgern. Wir sind einfach als Menschen gewachsen und haben andere Dinge kennengelernt und das hat uns den nötigen Abstand gegeben, um auf unsere Erfahrungen als Band zurückzublicken und sie mehr wertzuschätzen.
Und wie wirkt sich das auf eure Musik aus? Klingt sie nun anders, auch nach euren Solo-Projekten?
Brad: Das kann man schwer sagen. Ob man unsere früheren Aufnahmen oder unsere aktuellen hört: wenn wir im Studio waren, waren wir richtig engagiert, auch wenn das letzte Mal, als wir aufgenommen haben, richtig schwer war. Wir lieben unser letztes Album, aber es war die tollste und die schlimmste Erfahrung zugleich. Aber was wir und die Fans feststellen, wenn wir auf der Bühne sind, ist wie viel Spaß wir jetzt haben. Wir müssen nicht mehr unbedingt im Rampenlicht stehen und wir stehen nicht so in Konkurrenz zu einander, weil wir einfach genießen, eine ganz andere Phase des Lebens zusammen zu verbringen. Chad und Pete haben mittlerweile Frauen und Kinder. Es geht jetzt mehr um die Familie und weniger um uns. Das ist für uns nicht selbstverständlich. Es ist so ein schönes Geschenk zusammen zu spielen.
Wie würdet ihr das Phänomen "Dispatch" beschreiben? Wie ist es möglich, den Madison Square Garden drei Abende in Folge zu füllen und trotzdem von den großen Radioanstalten oder MTV ignoriert zu werden?
Chad: Ich glaube, weil wir ihr Spiel nicht mitspielen wollen, wollen sie nichts mit uns zu tun haben. Wir haben kein Major-Label das für uns Gefälligkeiten oder Geld investiert. Deshalb bekommen wir kaum Aufmerksamkeit. Aber das ist auch Teil unserer Identität geworden. Viele Sender kennen uns einfach nicht. Als wir anfingen hatte niemand, der über 35 war eine Ahnung, wer wir sind. Aber die meisten, die gleichaltrig oder jünger waren hatten von uns gehört. Wir waren eine Art Geheimtipp, den die Fans kannten und weitergaben.
Brad: Es ist toll unsere Fans zu sehen. Vor allem in den USA bei den größeren Veranstaltungen kommen mehrere Generationen von Dispatch-Fans, und immer mal wieder Familien, die einen weiten Weg reisen, um sich dort zu treffen.
Gab es keinen Zeitpunkt, an dem ihr euch gedacht habt: Verdammt nochmal, wir wollen auch ein Major-Label, wir wollen den Rest der Bevölkerung auch erreichen, wir wollen auf MTV gespielt werden?
Brad: Wir fänden es toll, wenn unsere Lieder im Radio gespielt würden, aber diese ganze MTV-Sache? Nein, das ist uns egal. Wir glauben noch immer an unsere Musik und dass sie qualitativ ohne Frage im Radio laufen könnte. Wir können ja nicht ständig touren, da wäre es schon schön, wenn unsere Musik mehr Menschen erreichen könnte
Dispatch gehört zu den Bands, die vom Internet und beispielsweise von Napster profitiert haben, weil ihr eure Fans nicht dafür kritisiert habt, dass sie eure Lieder heruntergeladen und verbreitet haben. Dadurch habt ihr unter jungen Menschen diesen Bekanntheitsgrad erlangt. Wie steht ihr heute zur der ganzen Copyright- und Pirateriediskussion?
Pete: Das ist eine interessante Frage. Wir kommen zu einem Punkt wo man sich fragt: wird es eines Tages nur noch ein Major-Label geben? Und dann gibt es Plattformen wie Spotify. Das Problem dabei ist, dass sie angenehm und toll zu sein scheinen, aber ich verstehe nicht ganz, wie ein Künstler wie wir oder unbekannter damit irgendwie Geld verdienen kann. Für mich gibt es immer eine Balance. Jeder Künstler muss eine bestimmte Menge von seiner Musik kostenlos bereitstellen, damit er dann auch Geld dafür bekommen kann. Ich kenne die genaue Summe nicht, aber wir haben zu Beginn mit Sicherheit einiges hergegeben. Zu der Zeit gab es diese Computer-Geschichte noch nicht so, da ging es um CDs. Wir haben CDs an Truckstops verteilt oder an Leute, die wir getroffen haben oder an Fremde.
Chad: Oder wir sind Julia Roberts in New York hinterhergerannt. Sie ist mit irgendeinem Mann am Union Square an mir vorbeigegangen. Ich habe zu einem Freund gesagt: "Ich glaube das war Julia Roberts!" Ich hatte eine CD von uns dabei und bin ihr nachgerannt. Dann habe ich zu ihr gesagt: "Julia?"
Pete: ... und sie hat gesagt "Chad?" (Gelächter)
Chad: Ich hatte "Four Day Trials", unser drittes Album dabei und habe es ihr gegeben. Sie sagte "Wow, danke schön. Ich bin sehr gespannt". Und das wars.
Und ihr habt niemals wieder was von ihr gehört?
Brad (lächelt): Wir sehen sie oft in der ersten Reihe bei Konzerten in New York...
Pete: ... und dann, Chad, bist du um die Ecke gegangen, und hast die CD im Mülleimer gefunden.
Brad: Das war natürlich die CD von jemand anderem!