Zum Auftakt von "Radikal Jung" im Volkstheater
Was kostet die Welt? Und reicht dafür die Portokasse?
Theater ist auch nicht mehr das, was es mal war: Gleich zum Auftakt verabschiedet sich das Festival "Radikal Jung" von etwaigen noch übriggebliebenen Sehgewohnheiten. Bei "Live & Strive" und "Lottery" waren die Zuschauer gleich selbst die Akteure. Und bei "This is the Land" wurde abends im Volkstheater in drei grandiosen Bildern erzählt - über die Erzählungen, die etwas so Zerbrechliches wie eine Gesellschaft zusammenhalten.
Autos machen Blicke. Kaum sind wir in den noblen Kleinbus mit getönten Scheiben eingestiegen und haben uns auf den Weg in Richtung Schwabing gemacht, verändern sich die Blicke. Die unseren, weil wir die frühlingshafte Welt von unseren Ledersitzen aus wie durch einen schiefergrauen Schleier sehen und uns denken: Ach, sieh mal die Leute, die müssen mit dem Rad fahren oder gar zu Fuß gehen. Die Blicke der Leute auf der Straße hingegen signalisieren dagegen Verwunderung oder gar Ablehnung: Was wollen diese Protztouristen hier in unserem Schwabinger Biotop?
Wir sind Teil eines Experiments. "Live & Strive" heißt es, Anat Eisenberg und Mirko Winkel haben Regie geführt. Oder sollte man sagen: Geben dem ganzen die ungefähre Richtung vor? Denn die Darsteller sind - von einem Makler und einem Security-Mann abgesehen - wir Zuschauer. Wir kleiden uns, falls nötig, in Wohlhabenden-Fummel um und denken uns eine persönliche Lebensgeschichte aus, die erklären soll, wie wir an zig Millionen gekommen sind. Gar nicht so einfach, stellen wir fest, außer erben, Waffen handeln oder Lotto führt kein leichter Weg zu der Kohle. Wie bekommt, geschweige denn: verdient man so viel Geld?
In Schwabing steigen wir aus und betreten ein Siebziger Jahre-Haus. Es wird gebaut, renoviert, saniert, das sieht man, auch wenn die Bauarbeiter gerade frei haben. Ein Makler empfängt uns und erzählt und von der tollen Stadt vor den Bergen. Als wäre dieses München eine Ware, die man ersteigern könnte. Der Makler (ein wenig schmieriger hätte man sich solche Leute schon vorgestellt) ist angeblich von der Firma Monachia Lux, spezialisiert auf Nobel-Immobilien. Klar, München leuchtet ja seit Thomas Mann. Und dann: die Wohnung, mitten in Schwabing, tatsächlich, wer Phantasie hat, kann sich das Ding vorstellen: geräumig, hell, mit Dachterrasse auf mehreren Ebenen. Wäre ich ein russischer Oligarch, ich käme in Versuchung, auch wenn uns Mirko Winkel auf der Fahrt noch unterrichtet hat, dass hier ein früherer sozialer Wohnungsbau in ein Reichen-Domizil umgebaut wird. Von einem Balkon schräg unter uns beäugt uns Plastikhelmträger misstrauisch eine Frau in mittleren Jahren. Man ertappt sich bei dem Gedanken, was es wohl kosten würde, diese Person aus ihrer Wohnung rauszukaufen. Überhaupt taxiert man die Umgebung: Was kostet die Welt? Und habe ich so viel in meiner Portokasse? Vielleicht sollte ich gleich noch die Wohnung darunter dazu kaufen: als Bedienstetenwohnung? Klar, die Domestiken wohnen unter uns. Erschreckend schnell würde man sich an derlei Gedanken gewöhnen.
Eisenstein und Winkel sind schon seit mehreren Jahren mit ihren Stadterkundungen unterwegs und dokumentierten auch schon in Boomtowns wie Istanbul den Verlauf der Krankheit Gentrifizierung, Ist ein Viertel mal so heruntergekommen und geschwächt, dass es keine Widerstandskräfte mehr hat, kommen die Spekulanten, nisten sich ein - und auf einmal steigen die Preise wie ein Fieber. Es wird ein reinigendes Fieber sein, denn am Ende wohnen da nur noch Wohlhabende. Die Störenfriede, die Prekären und nicht ganz so Betuchten, sind vertrieben worden. Den Blick in die Mechanismen dieses Verdrängungsprozesses und in seine eigene Verwandlung wird man ebenso lange im Gedächtnis behalten wie den tatsächlich ungewöhnlichen Blick über die Dächer von Schwabing zum Olympiaturm.
Experiment Nummer 2 findet am Bavariaring statt: "Lottery" von Keren Sheffi und Saar Székely. In einem leer stehenden Bürogebäude wird man einem Interview-Verhör unterzogen, danach (willkürlich?) in eine von drei Gruppen eingeteilt. Dann zusammen mit den anderen in einen Raum geführt, in dem ein Laptop den Ton angibt: Er gibt Einzelnen, Zweiergespannen oder auch größeren Gruppen schriftliche Anweisungen oder schickt Teilnehmer ins Gefängnis - ein separater Raum. Gehorcht man oder lässt man seinem Widerspruchsgeist die Zügel schießen? In Grüppchen oder allein schlendern die Teilnehmer durch den zentralen Raum, irgendwann setzen sich die ersten hin und greifen nach Büchern, die da umherliegen.
Hat die Mitbewohnerin in der Theater-WG wirklich gerade was von Sex mit Tieren erzählt? Ist das ernst oder steht das im Script? Kontrolle und Offenbarung könnten sich als wirksame Methode etablieren, eine Gesellschaft erst zu etablieren und dann zu kontrollieren. Allein, unsere Gruppe nimmt die Sache vielleicht zu wenig ernst. So plätschert die Angelegenheit drei Stunden lang dahin. Von der Aussicht auf den Hauptgewinn angetrieben, lässt man eben vieles mit sich geschehen. Am Ende steht der Verdacht, ein wenig von einem verzweifelten Leben gesehen zu haben: Man lernt andere Menschen kennen, tritt mit manchen in engeren Kontakt, erleidet Rückschläge, trinkt Wein, Bier und Wodka, langweilt sich, amüsiert sich - und am Ende geht man, ohne dass man jemals dahinter gekommen wäre: Steckt hinter diesem Drama Willkür oder doch ein großer Plan?
Was hält eine Gesellschaft zusammen? "This is the Land" vom Tmuna Theater in Tel Aviv versucht Antworten darauf in drei Erzählungen. Drei ausgezeichnete Schauspieler - Efrat Arnon als Modeschöpferin Gali Sudanski, Natalie Feinstein als junge, ihre Wurzeln hinterfragende Israeli und Neta Weiner als Musiker und Siedler Regev Huberman - entwerfen einen erzählerischen Tryptichon. Eyal Weisers Inszenierung mit dem Untertitel "The Zionist Creation Rejects' Salon" bezeichnet sich als Entgegnung auf den Preis, den die israelische Kunstministerin für künstlerisches Schaffen auslobte, das sich positiv mit dem Zionismus auseinandersetzt. Wir bekommen also einen Anti-Entwurf zu sehen, ein Gegenbild dessen, was die Politik als nationale Erzählung bezeichnen würde. Keine offiziöse Preisverleihung, sondern einen gleichermaßen bitteren wie witzigen Blick hinter die tradierten Erzählungen, die da lauten: "Von der Shoa zur Auferstehung" oder "In jeder Generation erheben sie sich, um uns zu vernichten". Efrat Arnon erzählt von vielen Seltsamkeiten und von Aberwitzigem, der sich in der Alltagskultur Israels findet. Daraus stellt sie sich ein Kostüm zusammen, in dem sie wie ein halbfertiges Wesen wirkt, das aus vielen Versatzstücken zusammengesetzt ist.
Ayala Opfer alias Natalie Feinstein spürt ihrer betagten und schizophrenen Nachbarin nach, so lange, bis sie davon überzeugt ist, dass die alte Dame eine Holocaust-Überlebende ist. Sie verfasst sogar ein fiktives Tagebuch der Nachbarin als junges Mädchen, das mit ihrer Familie von den Nazis verfolgt wird. Am Ende hat sie damit nur Chiffres für den Schmerz und die Unsicherheiten ihrer eigenen Vergangenheit gefunden, stellt sich heraus: Die alte Dame ist in Israel geboren, hat nichts mit der Shoa zu tun.
Den Höhepunkt des Abends aber bildet Neta Weiners Darstellung des Siedlers und Musikers Regev Huberman. Er erzählt zu den Klängen des Akkordeons von der heroischen zionistischen Vergangenheit, als jüdische Siedler das Land erschlossen und gegen die Araber Milizen aufstellten, die Palmach und die Haganah, die zum Vorläufer der israelischen Armee wurden. Insbesondere sein Vater tat sich hervor, als Soldat mit dem absoluten Gehör für Waffen und für Freund und Feind. Die Explosionen steigert Weiner zur atemberaubenden Beatbox-Einlage - ein cooler, ein sympathischer, vitaler Vertreter einer israelischen Gruppe, die wir an sich nicht unbedingt sympathisch finden können. Aber zu diesem Zeitpunkt sind wir diesem Schauspieler ohnehin schon auf den Leim gegangen: Fast mit Gewalt muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass das hier nur eine Rolle ist. Viel Beifall für eine überzeugende Darbietung, die uns die Macht der Erzählung vor Augen führt.
Radikal Jung, noch bis zum 13. April 2014 im Münchner Volkstheater.