Neue Galerie "Samsa G. Tuchwaren" in der Schlafwagenfabrik Neuaubing
Abgründige Eleganz des Stillstandes
"Object Tanned Lined Classic Disparate Leather Gloves On Wet Plate" von Stefan Milev, Stefan Sappert, Nini Gollong. Foto: Michael Wüst
Hundert Jahre alt wurde letztes Jahr das Schlafwagenausbesserungswerk in Neuaubing, und 13 Jahre war es bereits leer gestanden. Das musste natürlich früher oder später so einem wie dem Hallenmogul Wolfgang Nöth aufgefallen sein. Nach langwierigen, von Misstrauen geprägten Verhandlungen mit der ehrenwerten Altaubinger Gesellschaft ging nach einem Antikmarkt (ohne fliegende Händler) jetzt eine bemerkenswerte Galerie an den Start.
Im Kesselhaus, dem ehemaligen Energiezentrum des Werks mit rostig braunem Dampfkessel, wollen Hamid Bagherzadeh und Zheng Liu künftig ihre alchemistische Kunstküche etablieren. Am Eingang postuliert das Plakat mit eruptiven Lettern oben ein Motto: „Process!“ Unter wild in die Schrift hinein stechenden Häusergiebeln, führt die enge, gewundene Treppe der Psychose in ein dunkles Labor. Verlassen, darin ein paar Handschuhe, verzweifelt nach oben gereckt. Tropfende Platten, Druckplatten, Bilder vielleicht (Entwurf: Sebastian Lechner). Eine Anspielung auf „Das Cabinet des Dr. Caligari“, diesen Urfilm des Expressionismus, der sieben Jahre nach Fertigstellung des Schlafwagenausbesserungswerkes Neuaubing weit entfernt in einer Großstadt 1920 Premiere hatte.
Und wer nun hier eintrat, sah den Eindruck vom Plakat voll und ganz bestätigt! Es geht nämlich richtig somnambul tief nach unten in die Galerie im Kesselhaus, die den seltsamen Namen „Samsa G. Tuchwaren“ trägt.
Hier, von wo aus der komfortable Schlaf ausgebessert auf die Schienen Europas ging, steigt man tatsächlich erst einmal über enge Treppen ganze zwölf Meter hinab. Oder man bleibt erst einmal stehen und blickt ausführlich nach unten, angenehm berührt von so viel hübscher Grusel-Wellness. Im Zentrum unten residiert ruhig lauernd eine orange-rostige Eisenkabine, eine Dekompressionskammer aus einem Berliner Krankenhaus. Was sonst, möchte man sagen. Die Beleuchtung kommt von einem quadratischen Alu-Rigging ganz oben. Das Licht hat dadurch einen theatralisch wirksam weiten Weg (Ralf Arndt). Die Wände sind roh, gezeichnet, voller Schlägen und Scharten und werden auch so bleiben.
Ebenfalls vom Alu-Gerüst hängen sieben Platten herab, ohne jede Bewegung, an schweren Eisenketten. Sieben Ambrotypien, Nachfolger der Daguerrotypien, der ersten Fotografien, so wie sie in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hergestellt wurden. Sieben Positiv-Unikate im Format 800 x 600 Millimeter. Belichtet wird wie damals auf eine Glasplatte, auf die eine bromsilberne Kollodiumsschicht aufgetragen wird. Die Balgenkamera, selbst konstruiert von den Fotografen Stefan Milev und Stefan Sappert, hat im Querschnitt dieselben Maße, das Unikum selbst ist auch schweigend anwesend.
Gezeigt werden Lederarbeiten des Designers Carol Christian Poell, dunkel schimmernd, streng und elegant abweisend selbst in Bewegungsunschärfen, umrissen von geisterhaften Schlaglichtern – an: Menschen, Models gab´s zu der Zeit noch keine. Zwischen Meditation und Mumifizierung sind es Erscheinungen im Gestus eines langen Abschieds – eines längsten. Den beiden Fotografen gelingt zusammen mit Nini Gollong, die für das gesamte Set-Design verantwortlich zeichnet, so etwas wie eine doppelte temporäre Rückkopplung. Ein ganz spezieller Found-Footage-Effekt. Eine Modenschau des 19. Jahrhunderts mit Blick in die Zukunft des Jahres 1913 und uns, die wir das als Vergangenheit betrachten. Eine leise abgründige Eleganz des Stillstandes. Als hätte der Schlaf angehalten.
Galerie "Samsa G. Tuchwaren" noch bis 19. März 2015, Neuaubing, Brunhamstraße 19a. Terminvereinbarung via www.samsa-g-tuchwaren.com
Anm. d. Red. (17.2.15, 20.45 Uhr): Ein Schreibfehler in einem Namen im letzten Absatz wurde am 16.2.15 verbessert. Darauf weist auch ein Leserkommentar hin, dessen sonstige Diktion für sich selbst spricht. Die Redaktion hat außerdem im ersten Absatz den Namen Zheng Liu hinzugefügt.