Ersan Mondtag bei Radikal Jung im Volkstheater
Haus ohne Worte
Ich bin dann eben mal tot: Der Vater am Boden, die anderen konsterniert, und die Fremde wartet auf Einlass. Foto: N. Kling
Ein elegantes Haus mit Ecken, in die man nicht schauen kann, ein gespenstisches Treiben einer nur oberflächlich normalen Familie, der irgendwie die Sprache abhanden gekommen ist, und das alles in Hochglanz inszeniert: Ersan Mondtags "Tyrannis" verwirrt bei Radikal Jung, fesselt dann - und lässt einen schließlich ratlos zurück. Der Abend war gut gemacht, möchte man schreiben und stutzt. Weil man auch erstmal darüber mit sich ins Klare kommen möchte, was das im Theater heißen soll: gut gemacht. Vielleicht dies: Man möchte dem Regisseur und seiner Truppe den Respekt aussprechen, ohne vollends ins Register des Lobes zu wechseln. Man freute sich über die souveräne Beherrschung vieler Mittel und Tricks des Theaters und ärgerte sich im nächsten Augenblick, dass sie für so wenig Inhalt verwendet wurden. Weil alles mit hoher Genauigkeit funktionierte und doch manchmal den Verdacht aufkommen ließ, dass der Regisseur in erster Linie damit zeigen wollte, mit welch hoher Genauigkeit er alles funktionieren lassen kann.
Man erlebte wunderbare Momente der Spannung, für die man mit grauenvollen Viertelstunden bestraft wurde. Rossini soll etwas ähnliches mal über die Musik von Wagner gesagt haben, es ist nicht neu, es trifft die Sache aber ganz gut: Den Leerlauf, die Reduzierung hat Ersan Mondtag in seinem Stück "Tyrannis" so auf die Spitze getrieben, dass man sich schon freut, wenn endlich wieder das Morgenlicht durch die Fenster sickert. Endlich ein anderer Anblick!
Mondtag zeigt uns die Oberfläche einer Familie, die jederzeit vom totalen Zusammenbruch bedroht ist. Wahrscheinlich ist sie sogar schon implodiert, hat sich die maximale Katastrophe schon ereignet. In einer geschmackvoll im Retrostil eingerichteten Wohnung (Ausstattung: auch dafür zeichnet Ersan Mondtag verantwortlich) sehen wir eine Familie, der so etwas wie Sprache, Blick oder Kommunikation längst abhandengekommen ist, ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Die Menschen wirken nur noch wie Avatare, wer sich mit etwas älteren Computerspielen auskennt, dem werden die maskenhaften Gesichter und die seltsam pendelnden und abgezirkelten Bewegungen bekannt vorkommen. So steril, wie die Wohnung ist, kann es durchaus sein, dass wir tatsächlich der Routine eines Programms beiwohnen. Allerdings eines Programms mit einem Webfehler: Immer wieder werden die Figuren disfunktional, sie brechen zusammen, machen seltsame Sachen, die so überhaupt nicht in die Routine passen.
Überhaupt eine seltsame Familie, deren Alltagsritualen wir über drei Bildschirme im Wohnzimmer verfolgen können: Beide Kinder wohnen, obschon längst erwachsen, noch im Haus, die absurd fette Tochter bedarf beim Ankleiden gar der Hilfe der Großmutter. Das Zimmer des Sohns wirkt viel zu kindlich für einen jungen Erwachsenen. Alle Fünf teilen sich ein Bad, es gibt ansonsten getrennte Schlafzimmer, nur scheint's nicht für den Vater, der sich nächtens draußen herumtreibt, mit einem Beil in der Hand. Schlägt er damit tatsächlich nur Weihnachtsbäume? Immer wieder verschwindet er auch im Keller. Was treibt er da? Darüber gibt uns keine Kamera Aufschluss. Schließlich stört etwas die Routine: Eine schöne Fremde steht vor der Tür, Vater erstarrt und fällt tot um, die Mutter betrinkt sich, die Fremde zieht offenbar in das Zimmer ohne Kamerabeobachtung. Die Kinder machen gemeinsame Sache mit der Fremden, heißt: Man hat auf einmal dieselben Laufwege - Oma vergiftet sie offenbar deswegen. Freilich stehen sie kurze Zeit ebenso wieder auf wie zuvor der Vater. Man stirbt hier wie im Videospiel: nicht unwiderruflich.
Figuren, die fremd wirken, in ihrer Umgebung, erst recht aber in den Augen des Betrachters: das kennt man aus den Inszenierungen von Susanne Kennedy, künstliche Enterieurs, die nach und nach ein leises Gefühl des Horrors hervorrufen. Wenn Großmutter und Mutter mit leerem Blick am Tisch sitzen, fühlt man sich an ein tief trauriges Bild von Hopper erinnert. Sprachlose Performance konnte man vor einigen Jahren sehr berührend bei Radikal Jung sehen, in der Produktion "Life: Reset". Und das labyrinthische geheimnisvolle Haus lässt an Vegard Vinge denken. Mondtag hat viele Zitate in seinem Gemälde sprachlosen Horrors untergebracht.
Nur wird aus den vielen schöne Details am Ende doch keine Geschichte, kein Ganzes. Die Choreographie der Figuren ist exakt und faszinierend, doch ein gnadenloser Horror, eine nüchterne Höllenschau wie bei Kennedy mag sich nicht einstellen. Man wird trotz allen Grübelns nicht recht schlau aus diesem Treiben. Immerhin, und das spricht für die Konsequenz seiner erzählerischen Mittel, bleibt das Publikum in fordernden 130 Minuten bei der Stange. Man hört kaum ein Räuspern oder gar Husten, offenbar treibt die Leute die Frage um, wohin dieser geschmeidige Tanz, dieser ungeheure Aufwand am Ende führen soll. Entscheidenden Anteil an der ab und an sich unheimlich verdichtenden Atmosphäre hat die Musik und das Sounddesign von Max Andrzjewski.
Am Ende schreit jemand in höchster Not, die Figuren verziehen ihre Gesichter mit den aufgemalten Augen in einen Ausdruck schrecklichster und gefühllosester Freude. Welcher Schrecken das sein kann? Da fehlen uns wie auch den Figuren die Worte.