Victory Condition im Marstall
Wohnst du noch oder siehst du schon die Matrix?
Im falschen Film, beziehungsweise im falschen Programm: Er (Till Firit) und sie (Nora Buzalka). Foto: Armin Smailovic
Alptraum in der Einraumwohnung: Chris Thorpes Stück "Victory Condition" macht einem vor, über wie wenige Knotenpunkte alles miteinander verbunden ist und stellt damit die Fragen nach Wahrnehmung: Was nehmen wir eigentlich als Welt wahr? Ein unbehaglicher und dennoch faszinierender, kurzer Abend mit längerem Nachbeben.
Man konnte sich, zumindest an den konventionelleren Häusern, mal auf eines verlassen: Was auf der Bühne da vorne zu sehen ist, ist zwar nur Behauptung, ist nur gespielt, aber das mit dem Ernst, der das Leben nun einmal ist. Die da auf der Bühne glauben an die Illusion, tun zumindest überzeugend so, selbstvergessen gehen sie in ihrer Rolle auf, indem sie uns Zuschauer vergessen. Und wir, das Publikum, der Zuschauer, wir nehmen ihnen das ab.
So war die Vereinbarung zweier Vertragsparteien, die sich durch die „Vierte Wand“ voneinander separiert haben. Sie ist ja nicht wirklich da, sie ist die gedachte Barriere, die Zuschauer und Schauspieler trennt. Die einen da auf der Bühne bei ihrem Geschäft. Und wir schauen ihnen zu, durch diese transparente Wand. Nicht da, aber doch wirksam. Zuschauer und Schauspieler, sie reagieren nicht aufeinander. Durch die "Vierte Wand" hindurch können wir einander sehen. Aber wir lassen uns nichts anmerken.
Und dann das, kürzlich im Marstall. Keine Vierte Wand, sondern vier Wände. Eine Wohnung. Und die Zuschauer glotzen von allen vier Seiten aus rein. Von Anfang an fühlt man sich als Voyeur, allerdings als einer, der wiederum beobachtet wird. Das ist nicht besonders behaglich, und das soll es auch nicht sein. Wie ein Labor sieht die Wohnung aus, bei genauerem Hinsehen gehören wir Zuschauer knapp außerhalb der Versuchsanordnung aber auch zum Experiment. Das durchaus furiose Stück „Victory Condition“ von Chris Thorpe im Marstall kann man nicht einfach über sich ergehen lassen, dazu ist das Stehen zu unbequem. Man fragt sich also besser gleich, was man da sieht.
Man sieht: Eine Wohnung, die perfekt auf die Bedürfnisse derjenigen eingerichtet scheint, die dort wohnen (Bühne und Kostüme: Alex Lowde). Ein Paar, das die Wohnung betritt, um gleich routinemäßig zu verstauen, was das Requisit der Globalisierung so aufbewahrt: den Rollkoffer, der dann anschließend im perfekt angepassten Regal verstaut wird. Der Prozess, in gemessener Bewegung ausgeführt, braucht seine Zeit. Man hört: zwei Menschen, die sprechen. Aber nicht miteinander. Sie reden über etwas, das sie nicht erlebt haben. Sondern, was sie gerade erleben. Oder auch nicht.
Eigentlich sind sie so ziemlich vom Anfang an im falschen Film. Oder im falschen Programm.
Regisseur Sam Brown hat da einen alptraumhaften Abend angerichtet. Die beiden sprechen wie in fremden Zungen. Er (Till Firit) erzählt von den Gedankengängen eines Scharfschützen, der eine junge Frau aufs Korn nehmen soll, ein linearer Denkprozess, der in der Einsicht gipfelt, dass sich der Sniper womöglich in sein Objekt verliebt hat. Sie (Nora Buzalka) erzählt von der Aufhebung der Zeit: Sie sieht sich bewusstlos auf dem Boden einer U-Bahn-Station liegen. Die Geschichten sind womöglich wichtig für das Verständnis des Abends, man bekommt sie so ganz genau aber nicht mit, weil die beiden parallel reden. Womöglich ist aber ohnehin die Atmosphäre das, worauf es ankommt: größtmögliche Verunsicherung über das, was wir sind, wie wir uns und andere wahrnehmen. Ob es andere überhaupt gibt, oder ob die Welt außerhalb unserer selbst nur Traum ist, Wille und Vorstellung oder ein Computerprogramm. Denn in den Routineabläufen werden Webfehler wahrnehmbar. Sie stolpert auf einmal, er schlägt das Eigelb auf die Arbeitsplatte, anstatt in die Pfanne. Es ist, als ruckelten die Figuren und verlören immer wieder Pixel, sie wirken sehr überzeugend wie ferne Nachfahren der 80er Jahre TV-Kunstfigur Max Headroom.
Es ist die Matrix, die da durchbröckelt, die unglaublich komplizierte Gleichzeitigkeit und Zusammengehörigkeit von allem, von den Konflikten um Coltan im Kongo, wenn er sein Smartphone in die Hand nimmt, bis hin zu den Nöten (oder Gewinnen) ferner Nahrungsmittelproduzenten, wenn sie sich eine exotische Fruchtschorle einschenkt. Eigentlich packt man die allgemeine prekäre Verstrickung ja nur, wenn man nicht daran denkt. Das aber scheint bei den beiden immer schlechter zu funktionieren.
Till Firit und Nora Buzalka spielen keine sympathischen Figuren, sondern eher sterile Avatare, für die sich so etwas wie Mitgefühl ausgerechnet im Moment der beginnenden Dysfunktion einstellt. Viel Konzentration und Geistesgegenwart, den dieser mehrschichtige Text erfordert, eine Präzision der Sprache, der Buzalka an diesem ersten Abend sogar noch näher kommt als der messerscharfe Firit. Am Ende blicken die beiden einander mit einer Vierteldrehung des Kopfes in die Augen. Ein ganz leises Lächeln spielt um die Lippen von Nora Buzalka. "Victory Condition", das ist in der Welt der Gamer, hinter der Vierten Wand des Bildschirms, Verzweiflung oder doch Hoffnung? Wir wissen es nicht, genau so wenig, wie wir das mit allerletzter Sicherheit wissen können: ob da eine Welt ist und wir in ihr.