Der Kulturmanager Thomas Girst schreibt über die Zeit
Verweile doch
Man fragt sich tatsächlich, wann dieser Mann die Zeit findet, auch noch ein Buch zu schreiben. Thomas Girst jettet um die Welt. Überall, wo BMW Autos produziert und im großen Stil verkauft, muss er immer mal präsent sein. Nicht nur um Geld zu verteilen, sondern genauso, um die Lage vor Ort auszuloten und Netzwerke aufzubauen. Girst verwaltet seit 2003 den Kulturetat des bayerischen Autobauers, der im zweistelligen Millionenbereich liegt.
Dennoch entdeckte der promovierte Kunsthistoriker vor ein paar Jahren irgendein verstecktes Zeitfenster, um im Münchner Lenbachhaus die Duchamp-Ausstellung mit zu kuratieren.
Wer ihn vor dem „Großen Glas“ erzählen hörte, verstand schnell, dass da nicht nur ein eloquenter, nicht ganz uneitler Kenner seine Pirouetten dreht, sondern ein Kunstbesessener tief in den Kosmos des Marcel Duchamp eingedrungen ist. Und womöglich diese Ausflüge braucht, um sich in der Welt der ganz großen Investitionen – und gezielten Donationen – nicht zu verlieren. Und jetzt? Hat Girst sich „Alle Zeit der Welt“ genommen, um über die Zeit zu räsonieren. Über Geduld und Zeitkapseln, Verfallsdaten und die Ewigkeit. Und über Behausungen, in denen die Zeit stehengeblieben ist, wie im alten New Yorker Stadthaus der Künstlerin Louise Bourgeois. Die lud sonntags immer Kollegen ein oder solche, die sich dafür hielten, und dann saß man über Stunden zusammen, schaute Bilder an und trug Gedichte vor. Erst am späten Abend verließen die Gäste dankbar das Refugium der lächelnden kleinen Frau, die gut über 70 werden musste, um endlich von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Verspätet oder „en retard“ wie Marcel Duchamp gesagt hätte, der gleich gar nichts auf das zeitgenössische Publikum gab. Erst die Nachwelt entscheide, was man in den Louvre stecken oder nicht in den Louvre stecken will, notierte der Erfinder des Readymades 1960. Auch seine erste Einzelausstellung fand statt, als Duchamp bereits 76 Jahre alt war.
„Heute messen sich zu Viele daran, schnell Vieles zu erschaffen und auszustellen – in einer Zeit, da Kunstwelt und Kunstmarkt beinahe deckungsgleich geworden sind und Galerien wie Kunsthandel darum immer mehr Arbeiten von immer jüngeren Künstlern einfordern“, resümiert Girst. Man kann ihm leider nicht widersprechen, und es ist ja lange nicht nur die Kunstwelt, die sich im Rausch der Geschwindigkeit ad absurdum führt.„Gut Ding will Weil haben“, lässt Grimmelshausen seinen Simplicissimus philosophieren, was heute zugegebenermaßen etwas betulich klingt. Girst verpackt diese Erkenntnis in delikate kleine Geschichten und Gedankensammlungen aus der Welt der Künstler und Wissenschaftler. Gar nicht so selten kreiselt er behaglich vor sich hin, es geht nicht darum, die Bonmots in rascher Folge blitzen zu lassen. Deshalb darf man das Büchlein zwischendurch ruhig zur Seite legen, um sich wie der Müßiggänger auf dem Umschlag – hingepinselt vom fabelhaften Christoph Niemann – zwischendurch unter die Palme zu legen. Girsts Protagonisten fordern einen förmlich dazu auf.
Thomas Girst: „Alle Zeit der Welt“ (Hanser, 208 Seiten, 17 Euro.