Dürrenmatts "Physiker" am Volkstheater
Wahnsinn therapiert Vernunft
Warum soll man töten, wen man liebt? Jakob Immervoll als Moebius pirscht sich aus den besten Beweggründen an Schwester Monika (Luisa Deborah Daberkow) an. Foto: Arno Declair
Der reine Geist flüchtet hinter die Mauern einer Nervenheilanstalt und kann doch nicht seine Reinheit wahren: In seiner tiefschwarzen Konödie "Die Physiker" führt Friedrich Dürrenmatt den Fortschrittswahn ad absurdum. Nicht gerade neu, die Geschichte, und doch brandaktuell - wie sich am Münchner Volkstheater in der Inszenierung von Abdullah Kenan Karaca zeigt.
Kommissar Voß soll in einem Mordfall ermitteln. Mordermittler kommen in einem gewissen Sinne immer zu spät, doch der hier wirkt wirkt sogar gänzlich aus der Zeit gefallen. Nicht so sehr wegen des Gehrocks, der ihn wie einen Diplomaten aus der Zeit der Weimarer Republik aussehen lässt; vor allem wegen seiner Gewohnheiten. Eine Zigarette würde er gerne rauchen, und das im Salon einer Heilanstalt, und gerne etwas trinken. Nein, danke, keinen Tee, lieber einen Wodka. Das stelle man sich vor: Ein Schweizer Kommissar, der im Dienst raucht und trinkt.
Seit der Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Drama "Die Physiker" ist eben Zeit vergangen, viel Zeit. Dürrenmatts Stücke waren in den 50er, 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Riesenerfolge, schafften es bald in den Kanon der Schullektüre - was auch heißen kann: ins Museum der Literaturgeschichte. Generationen von Gymnasiasten analysierten sich durch Stücke wie "Der Besuch der alten Dame" und "Romulus der Große". Oder eben "Die Physiker". Kann es da Neues geben?
Gibt es. Es sind nach all der Zeit die Zeitläufe, die den scheinbar in die Jahre gekommenen Stoff aktuell erscheinen lassen.
Die Geschichte in aller Kürze: Die Vernunft zieht ins Irrenhaus, um die Welt vor dem Wahnsinn zu schützen. Am Ende aber stellt sich raus, dass der Irrwitz längst die Kontrolle übernommen hat. Der geniale Physiker Moebius hat das Geheimnis von allem entdeckt. Weil er die Folgen fürchtet, gibt er sich als Wahnsinniger aus und lässt sich einweisen. Frei denken kann er nur in der Irrenanstalt, denkt er. Gegen den echten Irrwitz des Menschen aber wirkt er naiv. Er scheitert tragisch, sein Versuch, sich und sein Geheimnis hinter den Mauern zu begraben, ist vergeblich. Die Büchse der Pandora ist am Ende geöffnet, ohne dass man diesmal die Hoffnung an ihrem Grunde finden könnte.
In der munteren, wenn auch manchmal allzu routinierten Inszenierung von Abdullah Kenan Karaca am Münchner Volkstheater stellt sich noch eines heraus: Dürrenmatt hat tatsächlich ein Meisterwerk geschrieben. Ein kleines Kammerspiel über die ganz großen Themen, kurz gefasst in zwei Akten, bemerkenswert prägnant, spannend und vor allem - bei gelegentlichem Hang zum Kalauer - pointensicher. Wie ein feines, kleines Uhrwerk, das am Ende austickt. Der große Warner Dürrenmatt zerschlägt scheinbar lustvoll Gewissheiten. Aus dem Scherbenhaufen steigt das Grauen. Und wir sehen zu.
Womit wir wieder bei unserm aus der Zeit gefallenen Ermittler wären. Kommissar Voß arrangiert sich erstaunlich gut mit den Sprach- und Verhaltensregeln des Irrenhauses. Irgendwann vertritt er auch die ärgsten Zumutungen an die Logik mit schulterzuckender Resignation. Pascal Fligg, er ist der Voß in dieser Inszenierung, trägt Gehrock und Toupet des Grauens immerhin mit Würde. Als Verkörperung machtloser Nonchalance glänzt er an diesem Abend. Er ist wahrlich unser Zeitgenosse. Wir sind Voß. Die Informationstechnologie stellt Möglichkeiten der Durchleuchtung und Überwachung bereit, die Orwells Big Brother vor Neid hätten erblassen lassen. Uns? Ist das wurscht. Chinesische Forscher verkünden die Geburt der ersten genmanipulierten Babys. Auch das - nichts, was uns aus der Ruhe brächte. Doch was ist die Furcht vor der Atombombe gegen die Gewissheit der Geburt des neuen, fremdgesteuerten Menschen?
Das Publikum im Volkstheater jubelte: Das Bühnenbild ist klar und streng und gerade so wie angetan für schräge Traumbilder (Bühne: Vincent Mesnaritsch), mit Möglichkeiten zum Schattenspiel (je nun, gehört heute ja fast schon zur Grundausstattung); der Abend ist kurzweilig, man erlebt in der Arbeit am guten Text eine Truppe, die sichtbar Spaß an Dürrenmatts Reenactment von Hamlets Feststellung hat: Ist es auch Wahnsinn, so hat's doch Methode. Doch, ist schon schön, was neben Pascal Fligg die anderen Darsteller abliefern: Jakob Immervoll als Moebius, Luisa Deborah Daberkow als Schwester Monika, Vincent Sauer als Einstein, Mauricio Hölzemann als Newton. Der allgegenwärtigen Versuchung zum Slapstick geben sie nicht über Gebühr nach, sind trefflich bei der Sache und bringen die Welt überzeugend schlafwandlerisch auf den Weg in den Abgrund. Stark agiert Carolin Hartmann als Irrenärztin Mathilde von Zahndt - mal Grande Dame, mal Zuchtmeisterin, dann wieder Horrorclown: Nach Voß holt sie das Stück endgültig in die Gegenwart.
Fragen können wir uns nach diesem Abend auch danach, ob Dürrenmatt mit seiner Heilanstalt nicht vielleicht auch den Showbetrieb gemeint hat. Innerhalb des geschützten Raums der Schauspielhäuser therapieren Darsteller und Publikum an den Problemen des Lebens herum. Das richtig irre Theater aber findet auf der Bühne der Weltpolitik statt. Solcherart neu gesehen ist Dürrenmatts Klassiker der Kommentar schlechthin zur Gegenwart.
Weitere Aufführungen u.U. hier auf dem Spielplan.