"Die After Party interessiert mich nicht": Interview mit Chris Dercon zu seinem Abschied aus München

von Michael Grill

Ein Mann im Luftschutzkeller, kurz vor seiner Hochzeit. Foto: Volker Isfort

Im Luftschutzkeller hämmern die Handwerker und bereiten die kabinettartigen Räume für eine spektakuläre Kunstzukunft vor, eine Etage höher turnen lärmende Schulklassen durch die Ausstellung "move", während Beleuchter letzte Kniffe für den "Theatergarten Bestiarum" ausprobieren. So hat es Hausherr Chris Dercon am liebsten: Das Haus der Kunst als eine Betriebs- und Produktionstätte, weit entfernt von jeder musealen Gediegenheit. Dercon hat in den letzten acht Jahren das Haus der Kunst extrem belebt, dessen Rang in der internationalen Kunstwelt aufpoliert, das Haus der Öffentlichkeit für eine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte erschlossen: Ein Höhepunkt dieser Arbeit wird nun ab 9. April zu sehen sein, wenn der ehemalige Luftschutzbunker dauerhaft für die Medien- und Videokunst der Münchner Sammlerin Ingvild Goetz geöffnet wird. Chris Dercon wird dann wieder da sein - allerdings nur auf Besuch: Denn am Montag fliegt er nach London, wo er an der Tate Modern seinen neuen Posten antritt. Und auch ganz zum Schluss seiner Münchner Zeit zeigt Dercon Gespür fürs Timing auf dem gesellschaftlichen Parkett: Bei seiner großen Abschiedsparty an diesem Wochenende (27. März 2011) gab  er bekannt, dass er am Tag zuvor seine Freundin, die Galeristin Sonja Junkers, geheiratet hat. Fürs Haus der Kunst kommt im Herbst Okwui Enwezor als Dercons Nachfolger nach München.

Herr Dercon, wann hatten Sie eigentlich das Gefühl, dass sie hier angekommen sind - und Ihnen die Münchner Kunstfreunde folgen?

Das Gefühl, dass wir als Team hier angenommen sind, hatte ich sofort mit der ersten und sehr schwierigen Ausstellung "Partners". Es gab nicht wahnsinnig viele Besucher, aber die Presse, auch die internationale, der innere Kreis des Kunstbetriebs, und auch die Besucher waren begeistert. Da habe ich schon gemerkt: Hier ist was möglich.

Sie haben damals Cattelans betenden Hitler gezeigt.

Ja das war natürlich ein Bruch, „Partners“ war auch nicht die Art der Ausstellungen, die man hier in München gewöhnt war, sogenannte „hochkarätige Ausstellungen“, „gut bestückt“. Das waren die ersten Vokabeln, die ich hier gelernt habe. Mich hat das immer an Thomas Bernhard in „Alte Meister“ erinnert, dort heißt es sinngemäß: „Die Leute bewundern alles, die bewundern sich noch kaputt.“

"Ich habe hier zwei ganz besonders wichtige Lehrmeister." Foto: Marion Vogel

Sie meinen damit die Ära ihres Vorgängers Christoph Vitali?

Ja, aber verstehen Sie mich nicht falsch: Christoph Vitali war damals genau das, was München brauchte. Es gab noch keine Pinakothek der Moderne, es gab noch keine Hypo-Kunsthalle.

Und die „Freunde des Hauses der Kunst“ haben Sie mit Ihrem Stilbruch nicht verstört?

Ich hatte mit Ministerialdirigent Toni Schmid und Kunstminister Hans Zehetmair große Fürsprecher. Aber auch der Mäzen Stefan Schörghuber war sehr aufgeschlossen: Er hat sich Ausstellungen angeschaut und manchmal gesagt: „Was ist denn hier los, Herr Dercon? Aber das muss es doch auch geben können!“

Und wo steht das Haus der Kunst nach acht Jahren mit Chris Dercon?

Wir sind völlig international ausgerichtet und interdisziplinär, wir experimentieren ständig mit verschiedenen Ausstellungsformaten. Und wir produzieren auch Kunstwerke. Das Haus ist in einem Top-Zustand. Die Konkurrenz unter den Museen ist zwar viel größer geworden, aber wir können alle Künstler haben. Es gibt keinen, der nicht gerne hier ausstellen würde. Es gibt eine regelrechte Warteliste.

Sie hatten ihre größten Publikumserfolge mit den Fotografien von Andreas Gursky und den Installationen von Ai Weiwei. Sie haben mit Christoph Schlingensief gearbeitet, Patti Smith und Yoko Ono ins Haus der Kunst geholt. Gab es etwas, was Sie nicht geschafft haben?

Ja, ich habe noch vor ein paar Tagen mit Edgar Reitz hier gesessen. Ich wollte unbedingt seine „Varia Vision“ rekonstruieren. Auch Bernd Eichinger hat mich wahnsinnig in der Idee bestärkt. Es gab 1965 auf der Theresienhöhe eine riesige temporäre Halle, darin hat Edgar Reitz mit 32 großen Filmprojektoren experimentelle Filme zum Thema Mobilität gezeigt. „VariaVision - Unendliche Fahrt“ ist eine intermediale Arbeit mit Film und elektronischen Klängen - und galt lange als verschollen. Ich hätte das so gerne gemacht, aber wir haben die Finanzierung nicht geschafft.

Was hat Ihnen München in den acht Jahren geben?

Ich habe hier zwei ganz besonders wichtige Lehrmeister: Alexander Kluge und Winfried Nerdinger. München hat das beste Filmmuseum in Deutschland, den Kunstverein, die Kammerspiele, die Pinakotheken und so vieles mehr. Wir brauchen Berlin nicht! Ich möchte dort auch nicht arbeiten, in einer Stadt, die beherrscht wird durch homo ludens und homo precarius und alle fragen nur ständig: „Wo ist die After Party?“ Das interessiert mich nicht. Ich fange ja auch schon um sechs Uhr an zu arbeiten.

"Wir sind völlig international ausgerichtet." Foto: Volker Isfort

Dabei haben Sie das P1 gleich im Haus.

Es war eine gute Nachbarschaft, aber ich habe mit Patti Smith den Weltrekord im Kurzbesuch aufgestellt: Nach elf Sekunden wollte Patti wieder aus dem P1 raus.

Im Schumann's waren Sie hingegen häufig anzutreffen.

Das ist mein Headquarter, da habe ich seit fünf Jahren einen Tisch, dort treffe ich viele Menschen zu Gesprächen und zum Arbeiten.

Und welchen Ort haben Sie bevorzugt, um den Kopf mal freizubekommen?

Das Museum vom Deutschen Alpenverein mit seinem großartigen Garten war für mich immer ein Rückzugsgebiet. Und der schöne Garten neben der Allerheiligenhofkirche. Unglaubliche Perlen, aber die Münchner wissen das wohl nicht: Ich war meistens alleine dort.

Was erwartet Sie jetzt in der Tate in London?

Die Tate Modern ist eine riesige Maschine, aber ich habe immer gerne als Kunstproduzierender gearbeitet. Ich sitze jeden Tag mit den Kuratoren zusammen - 28 junge, total obsessive Kuratoren - und höre mir die Vorschläge an. Dazu gibt es noch ein Korrespondentennetz über den ganzen Globus. Es ist spannend, mit so einer Truppe in einer kosmopolitischen Metropole zu arbeiten. Es gibt in dem Haus eine riesige Spannung zwischen den ganz kleinen Projekten und den Blockbustern wie beispielsweise Gauguin mit 480000 Besuchern. Aber das Kleine wird dort genau so ernst genommen wie die Prestigeausstellungen. Das haben wir im Haus der Kunst auch immer gemacht. Und das wünsche ich mir für jedes Museum der Welt.

Veröffentlicht am: 27.03.2011

Über den Autor

Michael Grill

Redakteur, Gründer

Michael Grill ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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