Alt-OB Christian Ude über das Olympia-Jubiläum und "Mister Olympia"

Warum der Platz neben dem Stadion jetzt nach Hans-Jochen Vogel benannt ist

von kulturvollzug

Ude und OB Reiter vor dem legendären Foto, das den damaligen OB Vogel bei der Rückkehr in Riem zeigt - bedeutungsvoll mit den olympischen Ringen auf dem Flugzeug. Foto: Privat

Aber ja: Er wird als „Mister Olympia“ auch international im Gedächtnis bleiben, als Oberbürgermeister, der seiner Stadt mit den olympischen Spielen von 1972 wesentliche, ja unvergängliche Impulse gegeben hat. Aber nein: Er hat sich das nicht selber ausgedacht, war nicht der Erfinder dieser großen Idee, er hat sie „nur“ aufgegriffen und meisterhaft umgesetzt. Und in seiner peniblen Korrektheit hat er das auch selber stets betont.

Nicht „der Doktor Vogel“, sondern sein Stellvertreter Georg Brauchle, nach dem der Abschnitt des Mittleren Rings im Olympiapark benannt ist, hat erstmals mit der Chance geliebäugelt, München könne sich um Olympia bewerben und damit staatliche Gelder für das geplante Stadion auf dem Oberwiesenfeld lockermachen. Aber das hat niemand aufgegriffen, am wenigsten die Münchner Presse. Das war 1964 bei den Winterspielen in Innsbruck. Aber dann kam Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, ein Jahr später, am 28. 10. 1965 in Vogels Amtszimmer am Marienplatz und unterbreitete dem jungen Stadtoberhaupt diesen historischen Vorschlag.

Vogel bat um Bedenkzeit, nahm Rücksprache mit städtischen Spitzenkräften („Können wir das?") und mit Willy Brandt in Berlin („Führt das zu einer Konkurrenz unserer Städte?“) – und sagte dann zu. Vertraulich versprachen Bayerns Ministerpräsident Alfons Goppel und Bundeskanzler Ludwig Erhard ihre Unterstützung, Der Stadtrat beschloss die Bewerbung einstimmig, der Landtag folgte einmütig, später folgte der Haushaltsausschuss des Bundestags ebenfalls einstimmig und übernahm ein Drittel der Kosten. Alles in wenigen Wochen!

Am 25. April 1966 durfte die deutsche Delegation vor dem IOC in Rom vorsingen – im Wettbewerb mit Detroit, Madrid und Montreal. Und siegte im zweiten Wahlgang. Bei der Rückkehr wurde Hans Jochen Vogel auf dem Flughafen Riem erstmals vor der Kulisse der olympischen Ringe (auf dem Flugzeug!) gefeiert – und dieses Bild sollte eine Ikone der Stadtentwicklung werden.

Die Stimmung, die sich anschließend in der Stadt immer mehr ausbreitete, kann man nur als Euphorie bezeichnen. Dabei ging es nicht nur um Sportbegeisterung, sondern um Lebensgefühl: Es geht aufwärts, München wird vielfältiger, lebendiger, bunter. Frühling in der Stadt.

Mit Bier und Aschenbecher vor dem OB: So diskutierte man damals. Foto: Privat

In den folgenden zwei Jahren begegnete ich Vogel oft, wenn ich als Reporter im Rathaus war. Die herausragende und unumstrittene Zentralfigur war er schon seit seiner Wiederwahl im Frühjahr 1966 mit über 78 Prozent, aber mit Olympia war er plötzlich ein Mann mit internationaler Strahlkraft – und im Rathaus gaben sich international bekannte Sportfunktionäre und höchste Repräsentanten von Bund und Land die Klinke in die Hand. Projekte, Projekte, Projekte. Er konnte aus dem Stegreif jedes Vorhaben samt Terminplan und Kostenentwicklung referieren. Wir Journalisten hingen an seinen Lippen, Stadträte folgten ihm brav, die Belegschaft sowieso, und nur der Parteinachwuchs bemühte sich um ironische Distanz, indem er vom „großen Zampano“ sprach und lästerte, Vogel würde täglich sein Rathaus-Fenster öffnen, „um die Jugend der Welt zu rufen“.

Leidenschaftlich machte er immer wieder die Vorteile der Spiele für München klar: Die U-Bahn kommt fünf Jahre früher als bisher geplant, ebenso die S-Bahn. Auch der Altstadtring muss fünf Jahre früher fertig sein und im Herzen der Stadt einen großen Fußgängerbereich ermöglichen. Um nicht zu viele Verdienste bei den fünf Ringen abzuladen, betonte er aber auch immer wieder, dass diese großen Neuerungen von Doktor Vogel schon vorher geplant waren, aber jetzt halt schneller kommen und auch mit Geld von Land und Bund realisiert werden. Völlig neu dazu kommen würden aber die Sportanlagen vom Stadion mit seinem verwegenen Dach, die anderen Sportanlagen in München und Umgebung, das Olympische Dorf und die Pressestadt und der große Park mit seinem See als bisher schmerzlich vermisste Naherholung im vielfach belasteten Münchner Norden. Das überzeugte im Rathaus alle, sogar seinen einzigen hartnäckigen Widersacher Dr. Ludwig Schmid vom Hausbesitzerverband.

1968 kam der OB sogar in meinen Volkshochschulkurs „Politik der Woche“ für Schülerredakteure der Region, um die Olympiapläne zu erläutern. Nur Bewunderung, bis einer fragte, was er „von dem studentischen Protest gegen die Spiele“ halte. Welchem Protest? Gibt es wirklich solche Leute? Naja, einzelne. Aber sie haben sich auch schon mal versammelt. In einem Hörsaal. Das fand er erstaunlich. Wie kann man nur gegen eigene Chancen protestieren? Später musste er noch öfter erleben, dass Einstimmigkeit die Ausnahme ist. Vor allem bei jungen Leuten.

Als die „heiteren Spiele“ von München oder dem schon blitzschnell weltbekannt gewordenen transparenten, schwungvollen Dach eröffnet wurden, saß er zwar auf der Ehrentribüne, aber nicht als Oberbürgermeister, wie auch heute noch fast alle Münchner glauben. Da war er schon „Altoberbürgermeister“ – und Georg Kronawitter sein Nachfolger.

Mitglied der Bundesregierung war er noch nicht, also nur Privatperson. So war er auch nur Zuschauer, als das palästinensische Attentat auf die israelische Mannschaft plötzlich den „heiteren Spielen“, die von Versöhnung und Völkerfreundschaft künden sollten, mit mörderischem Terror plötzlich den Charakter raubte. Trotzdem wurde er noch jahrzehntelang gefragt, ob seiner Meinung nach die Spiele fortgesetzt werden durften. Er antwortete stets: „Am Ende war es richtig, dem Terror nicht nachzugeben und die Spiele fortzusetzen. Nachgeben hätte geheißen, dass die Terroristen einen Erfolg feiern.“ So steht es auch im neuesten und gründlichsten Buch über „Die Spiele des Jahrhunderts“ der SZ-Redakteure Roman Deininger und Uwe Ritzer, mit unglaublich vielen Fakten und Quellen von der Bewerbung über alle zeitgeschichtlichen Hintergründe bis zum Terror und allen Folgen sowie den Biographien der wichtigsten Akteure aus Sport, Politik und Polizei (527 Seiten, dtv). Während IOC-Präsident Avery Brandage mit seinem forschen „The Games must go on“ keine Anteilnahme zeigte, hat Hans-Jochen Vogel gemeinsam mit dem Münchner IKG-Präsidenten (und Volkshochschuldirektor) Dr. Hans Lamm 20.000 Menschen auf dem Königsplatz versammelt, um gemeinsam zu trauern und dem Terror den Kampf anzusagen. Bei dieser Kundgebung war ich dankbar, dass ich beiden eng verbunden sein durfte. Vogel – ohne aktuelle Amtspflichten - ist dann mit der israelischen Mannschaft nach Tel Aviv geflogen: „Von mir als Oberbürgermeister wurden diese Sportler und ihre Trainer eingeladen, und jetzt liegen sie tot vor mir in ihren Särgen.“ Es sei eine der schwierigsten und emotionalsten Reisen seines Lebens gewesen.

Vogel und Ude bei einer Veranstaltung der Volkshochschule im Jahr 2017. Foto: Birkenholz

Und wie sah er dies alles im Rückblick? Darüber kamen wir wieder in der Volkshochschule ins Gespräch, im März 2017. Diesmal ging es weniger um Stadtentwicklung, mehr um Zeitgeschichte. Als junger Kriegsgefangener habe er seine Zukunft trostlos und perspektivlos gesehen. Deutschland hatte ganz Europa in einen verheerenden Krieg gestürzt, die Städte in Ruinenlandschaften verwandelt und mit dem Holocaust ein Menschheitsverbrechen begangen, war materiell, psychisch und moralisch am Boden zerstört. Da habe sich kein Angehöriger seiner Generation vorstellen können, dass schon einige Jahre später die Städte wieder weitgehend aufgebaut sein würden, die Wirtschaft sich wieder erhole, unsere Landsleute in den überfallenen Ländern Urlaub machen könnten – und dass ausgerechnet in München, ausgerechnet in der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“ schon 1972 Olympische Spiele ausgerichtet werden könnten, die der Welt ein demokratisches Deutschland und ein heiteres München zeigen. Wir wurden erlebbar wieder in die Völkerfamilie aufgenommen – sogar als Gastgeber der Jugend der Welt akzeptiert.

An Hans Jochen Vogels erstem Todestag wurde die Fläche, auf der sich neben dem Stadion mehrere Wege kreuzen, in „Hans-Jochen Vogel-Platz“ umbenannt. Charlotte Knobloch, die ihn wegen seines Engagements für das deutsch-israelische Verhältnis, für die jüdische Gemeinde und allgemein für die Erinnerungskultur sehr schätzt, zupfte mich bei der Feierstunde am Ärmel und fragte, ob die Stadt keinen belebteren Platz hätte finden können, an dem mehr Menschen ihre Anschrift haben. Stimmt schon, einerseits. Andererseits ist der Platz ideal gewählt: Man sieht das Stadion und sein Dach und den Park mit seinem See und seinem Berg, befindet sich mittendrin im olympischen Gesamtkunstwerk mit der wohl besten „nacholympischen Nutzung“, die je erreicht wurde.

Das ist schon ein würdiger Platz.

Weniger würdig ist die Entwicklung, die die Spiele in den letzten Jahren genommen haben. Immer mehr Kommerz, immer höhere Kosten, maßlosere Forderungen an die Austragungsorte, und trotz aller Lippenbekenntnisse zur Nachhaltigkeit immer sinnlosere Planungsruinen. Vom Kotau vor autoritären Herrschern ganz zu schweigen. Vor einem Jahrzehnt hat sich Hans-Jochen Vogel nochmals für Spiele in München engagiert, sogar im Kuratorium mitgewirkt. Für 2018 hat es nicht geklappt, für 2022 durften wir wegen sämtlicher einschlägigen Bürgerentscheide in Bayern nicht noch einmal antreten. Kritiker der Spiele jetzt in Peking hätte Vogel schon verstanden, aber sicher auch gefragt, was sie denn dafür getan haben, dass diese Spiele in einem demokratischen Rechtsstaat stattfinden können.

Christian Ude

Veröffentlicht am: 30.03.2022

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