"Achteinhalb Millionen" am Volkstheater nach dem Roman von Tom McCarthy
Auf der Suche nach dem Wirklichen und Echten
Spiel mit doppeltem Boden: Am Münchner Volkstheater überzeugt Mathias Spaans Bühnenbearbeitung von Tom McCarthys Roman "Achteinhalb Millionen". Es geht um Realität oder vielmehr die Wahrnehmung derselben. Oder geht es um viel mehr?
Etwas hat ihn getroffen, den Protagonisten, irgendein Teil, etwas Technisches, am Kopf hat es ihn erwischt. Seitdem versucht er wieder auf die Füße zu kommen. Genauer: wieder zu einem Verhältnis zu sich selbst zu gelangen. Seit Unfall und Reha - bei der er in der Tat alltäglichste Verrichtungen erst wieder einüben musste - hat er das Gefühl, etwas stimme nicht. Alles nur Kulisse, nichts echt, auch er selber nicht. Als sei er ein Schauspieler, der etwas zu sein vorgibt, der nur geübt hat, jemand zu sein.
Doch dann hat er in einem Badezimmer ein Déjà-vu. Ein Riss in der Wand wird zum Erkennungsmerkmal und zum Blitz der Erkenntnis. Da war diese Situation, in der er ganz bei sich selbst war, ganz authentisch. "Wann war ich weniger künstlich, wann weniger second hand?" fragt er sich.
Gut, dass er achteinhalb Millionen Pfund Entschädigung zugesprochen bekommen hat. Und so schickt er sich an, aus seinen Erinnerungsfragmenten heraus diese eine Situation zu rekonstruieren, in der er kein gebrauchtes Leben geführt hat, in der sich die Welt echt angefühlt hat und damit auch er.
Zu diesem Zweck engagiert er einen Eventveranstalter, quasi als Regieassistenten. Naz heißt er, er castet gleich zu Beginn heraus aus dem Publikum die Statisten jenes Settings: Den Klavierspieler, der in der Etage darüber übt (Markus Hein), die alte Frau, die einen Müllsack schleppt (Sabine Heißner), den Bärtigen, der an seinem Motorrad schraubt (Thomas Offner).
Es fasziniert, wie Mathias Spaan die Ebenen von Realität und Reenactment gegen- und übereinander schiebt. Nebenfiguren verwandeln sich in Verkörperungen des Protagonisten, dessen Rolle, vielmehr: dessen Persönlichkeit, die sich so mal den einen, mal den anderen "Wirt" zu suchen scheint.
Eine Persönlichkeit auf dem Sprung, vielfach und unstet, immer bereit, sich die Angelegenheit von einem alternativen Standpunkt aus anzusehen. Schließlich gilt es, aus Fragmenten ein perfektes Bild zu rekonstruieren. Wie Meeno Jürgens, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt einander die Rolle des Protagonisten zuspielen, ist allein den Theaterbesuch wert - so smart, so spielerisch, so präzis greifen da die Zahnräder ineinander.
Event-Zampano Naz (wiederum Janek Maudrich) castet, probiert, lässt Wände von der Decke schweben. Ein Auftragnehmer ist er eigentlich nur am Anfang. Im Lauf des Stückes wird das Kontrollbedürfnis des Protagonisten zum Kontrollzwang. Und der Rekonstruktion eines Gefühlsraums folgt aus der Erinnerung an eine Gewalttat auf offener Straße die Inszenierung des eigenen Endes. Und schließlich folgt ein inszenierter Banküberfall, in dem leider Kunden und Mitarbeiter keine Ahnung davon haben, dass es sich um ein eine Inszenierung handelt. Naz ist da schon eher ein Komplize als ein bloßer Gehilfe.
Die Bühnenadaption von McCarthys Roman, für die Regisseur Spaan gemeinsam mit Dramaturg Leon Fisch den Text erarbeitet hat, ist natürlich auch ein Stück übers Verschwimmen von Grenzen zwischen Realität und Spiel und damit auch übers Theater. Über den Ort also, an dem sich bis zum Einzug des postdramatischen Dramas der Schauspieler im Idealfall "sein" und nicht etwas zu sein vorgeben sollte. Es mutet schon wie Sadismus an, wie der Protagonist seine Statisten endlos wiederholen lässt. Dabei ist er nur auf der Suche nach dem Schmelzpunkt, an dem die Vorstellung zur Wirklichkeit wird. An dem alles so selbstverständlich ist und keine eingeübte Rolle.Wie bei Robert de Niro in "Godfather" - von ihm ist an diesem Abend oft die Rede. Er ist sozusagen die Inspiration des Protagonisten.
Dem Volkstheater ist mit dieser echt schrägen Suche nach dem Wahren und Echten ein so spannender wie vielschichtiger Abend gelungen: Sozusagen Theater, aber wirklich!