"Europa flüchtet nach Europa" am Münchner Volkstheater
Gestrandet an der Küste von Nirgendwo
Europa, ach ja, Europa: Ruth Bohsung stellt die Kirche dar. Neben dem Ei aus Hieronymus Boschs "Garten der Lüste". Foto: Gabriela Neeb
Eine Abrechnung? Eine Bestandsaufnahme? Oder doch nur ein Zeugnis allgemeiner Überforderung? "europa flieht nach europa": So heißt das jüngste Stück am Münchner Volkstheater, "ein dramatisches Gedicht in mehreren Tableaus". Stellt sich die Frage: War es nur ein Fragment, oder doch eine angemessene Beschreibung einer matten Gesellschaft?
Was wird aus uns, Europa? Womöglich ist das im Moment gar nicht zu sagen. Man weiß aber immerhin, was war. Europa, so viel steht fest, hatte immer eine Mission. Oder zumindest die Gewissheit, eine zu haben. Das konnte sein: Die Welt mit Fortschritt beglücken. Oder die Aufklärung zu bringen. Oder das Christentum. Oder den freien Warenverkehr. Es hat sich so na ja gelohnt für Europa. Es wurde reich. Es wurde unglücklich.
Nun ist Europa eine Union, der Kontinent hat eine Formel der Selbstorganisation gefunden, hat ein demokratisches Grundgesetz, eine nur bedingt demokratische Regierung, ein Parlament und zwei Hauptstädte. Es hat nicht: Richtung und Kompass. Es sucht nach seiner Mission 4.0. Am besten eine, die den alten Kontinent gegen die Ambitionen der neuen Mächte wie China feit.
Irgendwo im Niemandsland zwischen Europas Morgendämmerung in der Antike, der Totalentkernung in zwei Weltkriegen und einer ungewissen Gegenwart (von der Zukunft ganz zu schweigen) siedelt die Dramatikerin Miru Miroslava Svolikova "europa flieht nach europa" an, ihr "dramatisches gedicht in mehreren tableaus". Anna Marboe hat den Text für das Münchner Volkstheater inszeniert. Mit ebenso ungewissem, unsicherem Ende. Das eine ist die Feststellung: Ja, Europa hat ganz schön was hinter sich. Das andere ist die Frage: Und nu?
Man darf es sich aussuchen. Man blickt auf eine Bühne, die für eine TV-Produktion gerüstet scheint. Die Schauspieler des Münchner Volkstheaters spielen vor einer Green Box. Das ist ein Verfahren, das es der Post-Production nach den Dreharbeiten erlauben würde, die Darsteller freizustellen und in einen beliebigen Hintergrund einzumontieren (Bühne & Kostüme: Sophia Profanter, Helene Payrhuber).
Europa ist also von Beginn an eine sehr frei interpretierbare Figur, die in allen möglichen Szenarien Anwendung finden kann. Schon der Gründungsmythos steht sozusagen auf dem Kopf. Europa ist keine phönizische Prinzessin, die von Zeus in Stiergestalt nach Kreta entführt wird, sondern ein gutgelaunter Schlächter mit Mission (Julian Gutmann). Er erschlägt den Stier. Verarbeitet ihn zu Filets. Und trompetet seine Botschaft in die Welt hinaus: "Dieser Kontinent wird nicht in Blut getränkt! Dieser Ort wird nicht aufbauen auf Blut! Nicht aller Anfang ist Blut und Gewalt! Dafür werde ich mit meiner Liebe sorgen!"
Man bleibt in der Green Box einer TV-Gala. Im weiteren Verlauf des Stückes bildet den Hintergrund das Mittelstück des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronimus Bosch: eine Vision vom fried-, freud- und auch lustvollem Beisammensein der Menschen. Gemalt hat es Bosch Ende des 15. Jahrhunderts, als Europa eben zur Eroberung der Welt aufbrach. Friede, Freude, Massaker.
Der Rest ist großes Schlagwort-Bingo. Was einem in den Sinn kommen mag zu Europa, seiner Verfasstheit und Geschichte, vom Eroberer über Beamte und Putzkolonnen bis hin zum European-Song-Contest-Sieger: In dieser atemlosen, manchmal wirren Revue hat es seinen Auftritt. Und immer, wenn sich Risse auftun, erstarren die Akteure in Schlager-Pose. Dann ertönt gleich einem Mantra der europäischen Gemeinsamkeit der 1990er Sieger-Song: "Insieme!"
Ein treffsicherer Glanzpunkt: Ruth Bohsongs Auftritt als Kardinal mit direktem Draht zum obersten Dienstherrn. Wieso alles so ist, wie es ist? Telefon ans Ohr, Horchen, dann der Blick ins Publikum und die Verkündigung: "Is halt so." Den stärksten Eindruck hinterlässt insgesamt Vincent Sauer als das grün gewandte "Leben", verkörpert von Vincent Sauer. Ihm gelingt der Spagat zwischen Ernsthaftigkeit und postmoderner Leichtfertigkeit am entspanntesten.
Am Ende liegen alle unter der abgestürzten Leinwand des "Gartens der Lüste" begraben. Eine matte und ratlose Gesellschaft, gestrandet an der Küste von Nirgendwo. Er folgt der Auftritt von Bühnentechnikern. Sie beginnen, Ordnung ins Chaos zu bringen und die Leinwand wieder aufzuziehen. Anlass zur Hoffnung oder Grund für noch tiefere Verzweiflung? Man weiß es nicht. Manch Zuschauer geht ratlos aus dem Stück.
Aber es muss ja nicht so bleiben.
Mit der Zeit kommt Abstand. Und damit eine andere Perspektive. Diese Verwirrung, dieses Fragmentarische, diese Verweigerung einer dramatischen Erzählung: Vielleicht ist das nicht ein besonders gut gelungenes Theaterstück. Aber eben eine ziemlich treffende Bestandsaufnahme von Europa.