Kafkas "Schloss" am Residenztheater
Alptraum mit hohem Unterhaltungswert
Der Landvermesser K., zur Abwechslung mal im Hochhaus: Karin Henkel bringt Franz Kafkas "Schloss" auf die Bühne des Residenztheaters. Und transportiert die Stimmung zwischen Aberwitz und Frust hervorragend.
An diesem Ort scheint die Sonne nicht, nicht zu Beginn, auch später nicht, irgendwie hat man immer entsättigte Farben vor Augen. Nach langer Reise, spät in der Nacht kommt der Protagonist an, es ist dunkel und neblig. Und eigentlich kommt er ja auch gar nicht an, er ist ja nur zum Dorfgasthof gelangt, einer Art Zwischenhölle, in der die normalen Regeln des Zusammenlebens aufgehoben scheinen. Sein wirkliches Ziel, darin besteht der Witz oder vielmehr Aberwitz des berühmten Romanfragments, wird der Landvermesser K. nie erreichen: das Schloss des Grafen Westwest. Hört sich deprimierend an, ist aber mitunter tatsächlich komisch: "Das Schloss" von Franz Kafka.
Gemeinsam mit Rita Thiele hat Regisseurin Karin Henkel Franz Kafkas Romanfragment für die Bühne des Residenztheaters aufbereitet. Als Schauplatz hat sie allerdings kein Dorf ausgesucht, wie es sich Kafka in den östlichsten Teilen des Habsburgerimperiums hätte vorstellen können, sondern einen Hochhauskomplex. Wenn man so mag: eine Metropole unserer Zeit. Die beiden kommen Kafka bemerkenswert nahe: Dieses "Schloss" hält einen unterhaltsamen und in der Tat kafkaesken Albtraum parat.
Auf der Bühne des Residenztheaters entfaltet sich eine faszinierende Bühnenmaschinerie - oder sollte man sagen: ein Organismus? Räume verändern sich, die Akteure verlassen Zimmer, die hinter ihrem Rücken Gestalt und Zweck wechseln. Eine Rückkehr scheint unmöglich. Und so zieht das Hochhaus den Landvermesser immer tiefer in sich und seine Gesetzmäßigkeit hinein, in den dauernden Wandel, den Fluss, den sich selbst genügenden Prozess: Wer als Mann eine Schwelle überschreitet, kann auf der anderen Seite als Frau auftauchen. Warum auch immer, das Gesetz des Hauses will es eben so.
Nicht nur die Rollen wandern von Schauspieler zu Schauspieler, das Geschehen mäandert auch durch Kafkas Werke. Einmal ist eine Apparatur zu sehen, die an die "Strafkolonie" erinnert, ein Beamter schleppt einen Käfer wie aus der "Verwandlung" durch die Gegend. Am Ende erinnern die albernen "Gehilfen" aus dem "Schloss" an die Henker aus dem "Process". So ist das in diesem Paralleluniversum, das sich seinerseits in immer neue Varianten aufspaltet. Hunderte von Stockwerken gibt es in diesem Hochhaus. Dass ein wichtiges Dokument im 42. Stock zu haben sein soll, kommt nicht von ungefähr: Gab es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens jemals eine überzeugendere Auskunft als die Antwort aus "Per Anhalter durch die Galaxis" - 42?
Der Text des Stückes ist komprimiert und doch nah an der Essenz. Bei Kafka wie bei Henkel kann man das Individuum beim unterhaltsamen Scheitern beobachten; in der Szene oft absurd komisch, insgesamt aber ziemlich deprimierend. Das Geschehen auf der Bühne des Resi erinnert die meisten Zuschauer vermutlich an Erfahrungen mit Behörden, hoffentlich nicht an die Erfahrung mit dem Leben an sich. Nichts führt hier zum Ziel, alles bleibt unerfüllt, auch dem fragwürdigsten Zweck kommt der Einzelne nicht ein Jota näher.
Und niemand hat Mitleid oder gar ein Einsehen. So wie die Aufzüge, Fluren und Räume die Orientierung verweigern, so verweigern die Mitarbeiter, Untergebenen oder Beamtedes Hochhaus-"Schlosses" die Unterhaltung. Sie sind "nicht zuständig", schikanieren den Landvermesser mit Fragebögen, belehren über Regeln, von denen der auswärtige Besucher nichts wissen kann. Sie sind die Untersten einer geheimnisvollen Hierarchie und stehen doch weit über den Normalsterblichen, dem - siehe Landvermesser K. - unangemessen selbstbewusstes Verhalten ebenso wenig hilft wie inständiges Bitten: Der Frust des auf der Stelle Tretens höhlt ihn aus.
Es ist Nacht, auch am Ende. Hoch oben im Hochhaus brennt ein einzelnes Licht. Das Zimmer des hohen Beamten Klamm, vermutet der Landvermesser. Er schafft es nicht bis dorthin.
Hat er es verdient, dieses Schicksal? Wir wissen es nicht. Festzustellen bleibt, dass auch ihm nicht unbedingt zu trauen ist. Irgendetwas Unechtes ist an ihm, wie auch am Protagonisten im "Process". Aufrechter, selbstbestimmter sind da, im "Schloss" von Franz Kafka zumindest, schon die Frauen. Woran man durch die formidable Vassilissa Reznikoff erinnert wird: Ihre Frieda changiert eigentümlich zwischen Unschuld und Durchtriebenheit. Wirklich nur Beamtenanfängerin oder doch Teil eines Systems der Schikane? Es bleibt offen, im Roman wie auf der Bühne.