Eine Kurzgeschichte von Maria Levina

Kriegen wir schon hin

von kulturvollzug

Ein feinfühliger Kontrast zwischen innerer Schwere und unerwarteter Leichtigkeit. Bild: Gwendol Art.

Eine Momentaufnahme des trüben Flusses des Alltäglichen, in deren Zentrum das Bedürfnis nach einem Bruch steht – nach Momenten, die aus der Dämmerung herausstechen.

Diese Kurzgeschichte ist ein emotionaler Schnappschuss der Widersprüchlichkeit des Lebens, der darauf aufmerksam macht, wie klein ein Wunder sein kann – und wie groß es sich anfühlen darf.

Von Maria Levina

Alles trottet nur vor sich hin und ist grau, grau, grau, nur Trotten und Grausein. Trott und Grausein, Grausein und Trott? Die Gedanken kreisen, etwas muss passieren, etwas muss gut werden, etwas muss schlecht werden. Ein grauer Fluss, eine graue Masse, ein grauer Kopf. Graue Haare, graue Augenbrauen, graue Augen, graue Nase, grauer Mund, grauer Hals, graue Brust. Alles grau und schwer und gleich, alles gleich, alles auf einer Ebene - keine Hochs, keine Tiefs. Naja, doch ein paar Tiefs. Keine Hochs. So viel Bedeutung im Erdachten. In einem erdachten Konstrukt, in einem erdachten Schaffen und nicht Schaffen, geschafft und nicht geschafft haben.

Und dann tanzt er da. Dreht sich im Kreis, preist die Zeitung an: BISS, die Zeitung für Bürger mit sozialen Schwierigkeiten. Er ist ganz schmal, hat eine enge Hose an, einen Hut, ein kariertes Hemd. Sein Schnurrbart ist kaum sichtbar, ganz dünn, wie ein Schatten über der Oberlippe. Er trägt eine Brille mit länglichen Gläsern und er tanzt, er dreht sich im Kreis, immer weiter im Kreis. Er hat ein kleines Radio. Oder ist es eine Box? Es läuft Musik, er dreht sich um die eigene Achse, tanzt ein wenig nach links und rechts, lächelt, zeigt auf die Zeitung. Er ist immer da - jeder kennt ihn.

Ich habe schon oft gelächelt, wenn ich ihn gesehen habe. Vor zwei Tagen eile ich zum Zug und sehe ihn wieder - wie er tanzt und lächelt und sich dreht und ich will diese Zeitung. Ich will eine genau von ihm. Aber ich habe kein Geld dabei, ich gehe vorbei. Nächstes Mal hebe ich Geld ab und kaufe eine!

Später eile ich in die andere Richtung und wieder ist er da, ich habe kein Geld abgehoben. Ich gehe an ihm vorbei, bleibe stehen, drehe mich um und gehe zurück. Er sieht mich und lächelt, beendet seinen kleinen Tanz für einen Augenblick. 2,80 € kostet die Zeitung. Ich habe glaube ich nicht genug dabei, ich kann sie nicht bezahlen.

"Wie viel hast du denn? Das kriegen wir schon hin." Er lächelt nur.

Ich schaue nach. Tatsächlich! Es ist genug Geld da! Ich gebe ihm drei Euro und er freut sich, er lächelt und ich lächle. Alles löst sich innerlich - es fühlt sich an wie Funken und fließendes Gold, alles ist warm.

Ich wünsche ihm einen schönen Abend und gehe zur U-Bahn. Es ist der schönste Moment des Jahres. Kurz werde ich traurig. In meinem Geldbeutel war noch ein Euro. Ich hätte ihm den geben sollen. Ich habe das Verlangen, ganz viele Zeitungen von ihm zu kaufen. Ich mag ihn so sehr. Das Gefühl bleibt, den ganzen Nachhauseweg spüre ich die Funken, das Gold, die Wärme, sein Lächeln, seine Augen.

Und dann kommt die verdammte Untermieterin eine Stunde zu spät und alles ist wieder ein grauer, schmerzhafter Klumpen.

 

Veröffentlicht am: 26.04.2025

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