Eine Kurzgeschichte von Maria Levina

Rory - noch fünf Minuten

von kulturvollzug

Lebens im Ausnahmezustand. Bild: Maria Levina mit ChatGPT 5

Eine Momentaufnahme eines Trinkers, der zwischen Lebenslust und Selbstzerstörung taumelt und das Leben mit einer Intensität lebt, die an Schmerz grenzt. So wird aus einer Kneipenszene eine Schilderung von Exzess, Vergänglichkeit und der Sehnsucht, dem Ende immer noch "fünf Minuten" abzutrotzen.

Von Maria Levina

Rory ist ein wahrer Trinker, wie ich ihn mir vorstelle. Ihm gehört das "Snug" in Antigua. Über der Bar hängt ein Jameson-Schild. Hin und wieder spritzen die Nachbarn mit dem Wasserschlauch auf die Terrasse der Bar, weil es ihnen zu laut ist mit der Livemusik. Und manchmal drehen sie ihre eigene Musik so laut, dass sie alles übertönt. Dafür wählen sie furchtbare Laute, die man eigentlich nicht mehr als Musik bezeichnen darf.

Ich sitze in einer Ecke mit ein paar Bekannten, und meine Augen wandern nach links und rechts und landen doch immer wieder bei Rory. Er schert sich nicht um die Nachbarn. Er trinkt und tanzt und singt wie ein Verrückter. Er liebt diese Momente. Er springt auf einen Tisch und dreht sich einmal um sich selbst. An diesem Abend gibt es Live Musik, die Gäste verlangen eine Zugabe und Rory schreit: "KEIN PROBLEM! NOCH EIN SONG!", greift sich das Mikro und trällert ein Lied von Metallica oder irgendetwas Irisches. Dann springt er wieder auf die Tanzfläche, schnappt sich eine Frau, tanzt mit ihr, fordert uns auf mitzutanzen. Er ist furchtbar betrunken, lallt schon beim Singen. Trotzdem noch einen Song. Als er fertig ist, schreit er: "SETZT EUCH HIN! ES KOMMT NOCH EINER!" Dann haut er auf zwei Keyboard-Tasten und dreht sich weg.

Am Ende führt er ein außerordentlich wichtiges und sicherlich tiefgründiges Gespräch mit einem betrunkenen Gast an der Theke. Zur Verabschiedung umarmt er uns fest. Als er auf den Tisch gesprungen ist, dachte ich, dass er locker mal die Treppe herunterfallen oder über das Geländer stürzen könnte, wenn er so gesoffen hat. Als ich das anmerke, erzählt mir eine Bekannte, dass er vor einer Weile wohl einfach umgefallen und am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschienen ist.

Er hat graue Haare, fast weiß, trägt immer einen schwarzen Hut, der seine Ohren nach außen drückt, ein schwarzes T-Shirt, meistens mit einem Schriftzug einer Band. Wenn er singt, schließt er manchmal die Augen und reißt den Mund ganz weit auf. Rory singt aus voller Kehle, Rory schreit sein Herz heraus. Er ist so pur, das mag ich.

Kurz bevor wir gehen, kommen seine Söhne zu ihm, der eine 16, der andere wahrscheinlich zehn oder zwölf. Sie wollen nach Hause und Rory meint nur: "Noch fünf Minuten". Nach einer halben Stunde sind es immer noch nur fünf Minuten. Rory ist in ein Gespräch mit Gästen vertieft. Seine Söhne hängen schon vor Müdigkeit über einem der Tische. Nach nochmal "fünf Minuten" ist er dann bereit.

Wie wohl das Leben mit so einem Vater ist? Die Jungs hören ihre eigene Musik, als sie auf ihn warten. Vielleicht waren sie auch nur zu Besuch da und leben eigentlich bei ihrer Mutter in Irland?

Am liebsten mag ich die eine Palme hinter der Bar. Dort stehen zig Palmen, alle etwa gleich groß, und dann diese eine, die alle überragt. Bestimmt um die Hälfte größer. Wie sie das wohl geschafft hat? Manche Menschen werden so groß, weil sie einen Tumor im Gehirn haben, der das Wachstumshormon unkontrollierbar ausschütten lässt.

Veröffentlicht am: 04.10.2025

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