Kopftuch weg, Freiheit her!

von Michael Weiser

Kleiner Argumente-Verstärker: Sesede Terziyan hat etwas zu sagen. Foto: Doro Tuch

Schiller macht edel, und noch dem unwilligsten Migranten frommt das deutsche Liedgut: In seinem furiosen Stück „Verrücktes Blut“ vom Ballhaus Naunynstraße Berlin zerdeppert Nurkan Erpulat unseren Blick auf die Integrationsdebatte. Ein Höhepunkt beim Festival „Radikal jung“ im Münchner Volkstheater.

Wer sagt, dass Gewalt keine Lösung ist? Die Lehrerin Sonia Kelich (Sesede Terziyan), gerade noch von ihren Schülern gedemütigt, entdeckt die Pistole, die einem der „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ aus dem Rucksack gefallen ist. Blitzartig begreift sie die Chance, beim Theaterunterricht ihre hehren Ziele zu erreichen. Droht dieser verkommene Haufen Schüler zu entgleisen, schießt sie einfach in die Decke. Und schon fährt sie fort, die Schüler mit Schillers „Räubern“ und seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ zu traktieren. Ganz nach dem Motto, dass die Kunst eine Tochter der Freiheit sei. Und blickt man in die Mündung einer Faustfeuerwaffe, wird der Satz „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ ganz von selbst zu einer runden Sache.

Mit der Waffe wächst das Selbstbewusstsein der zarten Person. „Warum versuchen Sie, das mit Gewalt beizubringen?“, fragt schüchtern eine Schülerin. „Weil es nur so geht, ihr Versager“, schnauzt sie zurück. Und tatsächlich passiert etwas, es geht was voran in dieser Bildungsbürger-Diktatur. Standen die Balgen am Anfang noch in Macho- oder Muschipose am Bühnenrand, rotzend, Schleim hochziehend, spuckend, sich in den Schritt greifend, wachsen sie im Verlauf des Stücks immer wieder über sich hinaus, es gelingen, wie in einer schlechten US-Serie, die großen Auftritte, die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, die Apotheose Kants in der von Thilo Sarrazin angeheizten Integrationsdebatte. Eine Schülerin windet sich das Kopftuch vom Scheitel, entdeckt staunend die Pracht ihrer Haare, die sie, fast in Zeitlupe und wie in einer Shampoo-Reklame, schüttelt, den Kopf zurückgelegt, die Augen genießerisch geschlossen. Zwischendurch gelingen den Schauspielern fast schon ergreifende Szenen aus den Räubern, die ganz nach großem Drama klingen. Amalie, Karl und Franz, Schufterle und Roller – endlich sind sie in der Migrationsgesellschaft angekommen.

Spotz, speib, würg: Schulprolls, wie sie in Sarazins Buche stehen. Foto: Doro Tuch

Alle befreien sich am Ende von ihrem Kanakisch, sie bezwingen den Oberrüpel, der die Vergewaltigung eines Mitschülers mit dem Handy gefilmt hat; sie stellen ihn vor Gericht und verurteilen ihn doch nicht zum Tode, weil auch in ihm etwas Gutes steckt und er doch als Kind sicher auch ein Opfer war. Wer sagt, dass Gewalt eine Lösung ist?

Es ist abenteuerlich und atemberaubend, wie Nurkan Erpulat in seinem Stück „Verrücktes Blut“ Klischees in Karikaturen umstrichelt, ganz schnell, in wenigen Zügen, manchmal ungeheuer komisch. Hört sich einfach an, erzielt aber ungeheure Wirkung, wenn er die Bildungsdebatte auf dieses einfache Bild bringt: Von der Decke hängt ein Flügel, über dem von Neonröhren eingerahmten Probenraum, der einer Arena gleicht. Manchmal weicht das kalte Licht, und im warmen Lampenschein der Romantik ertönen Klaviertöne, zu denen Lehrerinnen und Chor in akzentfreiem Deutsch singen. Bildung veredelt!

Man darf sich in dieser Inszenierung vom Ballhaus Naunynstraße auch über sich selbst wundern. Immer wieder ertappt man sich bei der Erinnerung an Szenen, wo man sich vielleicht wirklich ein Schießeisen in die Hand gewünscht hätte. Immer wieder wäre man um ein Haar gerührt gewesen ob der gelungen Verwandlung dieser Aggro-Prolls in selbstbestimmte Individuen. Freiheit und Drohung – im Dienste dieser groben Sache sehen wird über den krassesten aller Widersprüche hinweg. Dass Erpulat uns Zuschauer immer wieder aus der Gefühlungsaufwallung reißt, entfaltet kathartische Wirkung: Durch den Anblick von ekliger Political Correctness, „Multikultigekuschel“, Gewalt und faschistoiden Anwandlungen formatiert man sich (hoffentlich) ein Stück weit selber neu.

Einfach aufregend ist es, wie Erpulat mit leichter Hand die großen Fäden aufnimmt, die sich durch die Geschichte fast aller Menschen und Gesellschaften ziehen: Die Erfahrung der Fremdheit etwa, die im romantischen Lied „Nun ade, mein lieb Vaterland“ anklingt; das Problem der Mündigkeit, das in der Forderung der Lehrerin zum Ausdruck kommt: Schiebt die Schuld nicht auf andere, werdet erwachsen – erkennet euch selbst!

Kaum hat man das alles notiert, wähnt man die Achterbahnfahrt absolviert, wird man von Erpulat auf ein neues Gleis gesetzt. Alles war nur Theater, die Schläge, die Tritte, die Schüsse in die Decke, Singen und Rotzen – alles nur ein Fake. Sogar die Lehrerin, diese Vorzeigedeutsche, ist in Wirklichkeit eine Türkin.

Nur einer macht weiter, „weil die Bühne das einzige ist, was an dieser Schule funktioniert“: Hasan, der geprügelte Kurde, das Opfer, sieht seine Karriere als „Erfolgstürke“ ohnehin verbaut, greift sich die Knarre und lässt nach seinen Regeln weiterspielen, mit ihm als Franz Moor, der auch ein Shakespearescher Richard sein könnte: um dies schöne Ebenmaß verkürzt, von der Natur um Bildung falsch betrogen, gewillt, ein Bösewicht zu werden... Viel Jubel am Ende für ein richtig spannendes Stück Theater.

Heute (Mittwoch, 13.4.2011) ist bei „Radikal jung“ spielfrei. Am morgigen Donnerstag geht’s weiter um 18:30 und 21 Uhr mit „Life : Reset“ vom Théatre National Brüssel in der Reithalle und um 19:30 mit „Fatherland“ vom Gate Theatre London

Veröffentlicht am: 13.04.2011

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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