Materialschlacht um den Nazi-Opa: Raphael Dwingers "Nestbeschmutzung"
Opa war ein Nazi. Es gibt heute kaum jemanden in Deutschland, der das nicht über seine Vorfahren sagen müsste. Der 24-jährige Münchner Schauspieler Raphael Dwinger hat den toten Großvater, den er nie persönlich traf, in den Bücherregalen des Elternhauses sogar jederzeit präsent: Edwin Erich Dwinger (1898 - 1981) war einer der erfolgreichsten Schriftsteller in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Heute wird der kurz nach dem Krieg als „Barde der Baltikum-Kämpfe und der sibirischen Kriegsgefangenschaft“ gehandelte Autor nur noch auf dunkelbraunen Internetseiten lobend erwähnt.
Der Enkel ging zusammen mit dem Regisseur Tobias Ginsburg Fragen nach wie: War Opa wirklich Nazi? Was ist ein Nazi? Sind diese Fragen heute noch von Bedeutung? Das Ergebnis einer eineinhalbjährigen Recherche nicht nur im literarischen Werk Dwingers, sondern auch in den Archiven ist die aufwändige dokumentarische Theaterperformance „Nestbeschmutzung“, die den militärischen Terminus von der „Materialschlacht“ verdient.
In der Reaktorhalle türmt sich eine Landschaft aus Podesten (Bühne: Jil Bertermann, Eva Veronica Born), in der Raphael Dwinger (gespielt von Matthias Renger) mit seinem Regisseur (Anton Schneider), seinem Dramaturgen (Andreas Haun) und der Schauspielerin Léonie Thelen um die richtige Geschichte über die Geschichte ringen. Zunehmend schmerzhafter reiben sich familiäre Erinnerung und historische Fakten, aber zunehmend wird aus Raphaels Neugier auch Selbstmitleid des um die Unbeflecktheit seiner Familie betrogenen Kindeskinds. Jedes Stück Material wird absolut gleichwertig behandelt, was wissenschaftlich korrekt, dramaturgisch aber lähmend ist: Die radikale Redlichkeit dieses bewundernswerten Projekts mutiert zu einer redundanten Redseligkeit, die mehr trübt als verdeutlicht.
Mathias Hejny
Reaktorhalle (Luisenstr. 37a), 2., 3. Mai 2011, 20 Uhr, Telefon 21852899