Nur ein Audioguide mit Webseite zu Münchens NS-Geschichte oder doch mehr? Zur Diskussion um Michaela Meliáns Memory Loops
Ganz neue Form des Gedenkens? - Melians Webseite mit dem Münchner Stadtplan. Screenshot: Michael Grill
Um es zynisch zu sagen: Gedenken hat endlich Konjunktur in München. Nach Jahrzehnten des Verdrängens arbeitet die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ ihre braune Vergangenheit auf. Der Platz der Opfer des Nationalsozialismus wird neu gestaltet, das zentrale NS-Dokumentationszentrum ist kurz vor Baubeginn. Und ab sofort hat auch der virtuelle Raum ein Eckchen des Erinnerns: Die Memory Loops der Künstlerin Michaela Melián. So eine Gedenkstätte gab es noch nie. Aber ist sie deshalb besser als alle anderen?
Anders gefragt: Kann Gedenken cool sein? Melián hat ein akustisches Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in München erstellt, das auf virtuellen Wegen zu seinem Publikum kommen soll. Auf der Webseite http://www.memoryloops.net findet sich eine Karte der Münchner Kernstadt. Blaue Kreise markieren Adressen, die mit Tondokumenten belegt sind: Zeugnisse von Diskriminierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Vernichtung. Der alltägliche Terror, der nicht irgendwo stattfand, sondern an Orten, die den Münchnern auch heute noch zwangsläufig nah sind, auch wenn sie es gar nicht mehr bemerken oder nicht bemerken wollen.
300 Tonspuren (plus 175 auf Englisch) hat Melián in den Münchner Stadtplan gelegt. Dazu gibt es fünf Klangschleifen (plus eine auf Englisch), bei denen die Spuren zu Hörspielen zusammengefasst werden. Sie markieren Rundgänge durch die Stadt. Alle wurden transkripiert aus Originaldokumenten von NS-Opfern oder Zeitzeugen. Die Dateien sind downloadbar – so kann sich jeder auch seine eigene Spur durch die Stadt legen. Münchens Kulturreferent Hans-Georg Küppers sagt: „Melián betritt völliges Neuland. Es ist ein außergewöhnliches Lern- und Erinnerungsinstrument.“
Auf jeden Fall ist es eine riesige Fleißarbeit: Monatelang durchsuchten Melián und ihrem Team Archive und recherchierten Fälle. Insgesamt waren 120 Menschen und 35 Organisationen in die Erstellung der Memory Loops eingebunden, projektiert vom Kulturreferat in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk. Ausgangspunkt war eine Initiative der Rathaus-SPD aus dem Jahr 2005. Stadtrat Michael Leonhart: „Wir hatten festgestellt, dass das übliche Gedenken ritualisiert wird und immer weniger Menschen anspricht.“ Man ersann das Projekt „Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“; es gab einen Wettbewerb mit 14 geladenen Künstlern und einen Etat von 350000 Euro.
Nachdem Melián als Siegerin des Wettbwerbs feststand, folgte eine wütende, aber deswegen nicht weniger sinnvolle Debatte über die Frage, was eigentlich ein Denkmal ist und welche Rolle die Kunst dabei spielen darf, kann oder soll. Peinlich und empörend daran war lediglich, dass aus der Jury heraus vertrauliche Informationen an eine Zeitung gegeben worden waren, mit der erkennbaren Absicht, das virtuelle Denkmal zu verhindern. Stadtrat Leonhart betonte wohl auch deshalb bei der Präsentation der Memory Loops: „Es ging uns nie um darum, die neue Form schlechthin zu finden. Die Memory Loops sind eine Form, aber nicht die einzig denkbare.“ Ein erstaunlich defensives Statement angesichts dieses Etats.
Michaela Melián (hier mit ihrem Mann Thomas Meinecke bei einer Lesung in der Galerie Junkers). Foto: Michael Grill
Denn unabhängig vom sinnvollen Versuch, durch eine neue Form neues Interesse an diesem Kapitel der Stadtgeschichte zu wecken, müssen sich die Memory Loops die Frage gefallen lassen, ob sie letztendlich mehr geworden sind als ein historischer Audioguide mit ansprechender Webgrafik. Die Breite der Recherche erschließt sich nicht unbedingt beim Blick auf einen Münchner Stadtplan, bei dem nur die Innenstadt mit blauen Ringen angefüllt ist – waren in den Stadtvierteln keine Nazis? Da waren sie natürlich sehr wohl, aber hier führt die Subjektivität in der Auswahl der dargestellten Geschichte zu Missverständnissen. Auch viele Geschichten sind nicht zwingend die ganze Geschichte. Meliáns Erinnerungsschleifen wollen vor allem: Geschichte nahe bringen. Wie wenn ein Freund oder Nachbar von einer aktuellen Begebenheit nebenan berichten würde. Das berührt, bedrückt oder erschüttert. Aber es ist ein recht schmaler Ausschnitt dessen, was Gedenken und Geschichte insgesamt bedeuten können.
Vor einigen Jahren gab es in München die Ausstellung „Ort und Erinnerung – Nationalsozialismus in München“, konzipiert vom Architekturhistoriker Winfried Nerdinger. Die Ausstellung arbeitete mit ganz schlichten Mitteln: Tafeln, Grafiken, Texte, Katalog. Aber wer sich an diese erinnert, stellt die Frage: War das damals nicht doch fundierter, tiefgründiger, wissenswerter?
Der Bayerische Rundfunk stellt für die Memory Loops Serverkapazität „für mindestens zehn Jahre zur Verfügung“, so Hörfunkdirektor Johannes Grotzky. Dafür gab es bei der Präsentation in der Rathausgalerie zu Recht großen Beifall. Und doch wird hier ein weiteres Problem des virtuellen Gedenkens sichtbar: Sobald jemand den Stecker zieht, ist es verschwunden. Hightech verlangt Infrastruktur, die aber oft nur kurzlebig ist. Nerdingers Katalog wie auch die meist geschmähte bronzene Gedenktafel werden auch dann noch existieren, wenn längst alle Festplatten verfallen sind. Michaela Melián sagt übrigens über ihr Werk: „Hoffentlich verschwindet es nicht im Millionengrab des Internets.“ Auch das kann passieren.
Und aus all diesen Schwächen bildet sich nun eine der größten Stärken dieses ungewöhnlichen Projekts: Die Memory Loops sind, im Vergleich zu all den düsteren Kranzabwurfstätten des gerechten Schuldbewusstseins, ein so ein herzzerreißend zartes Pflänzchen, dass man einfach sagen möchte: Es ist schön, dass es sie gibt.
Ab sofort im Netz unter www.memoryloops.net. Am Donnerstag (30. September) um 19 Uhr beginnt die Podiumsdiskussion „Gedenk.Kunst – zeitgenössische Formen der Erinnerung im öffentlichen Raum“ in der Rathausgalerie (Rathaus, Marienplatz 8). Bayern 2 sendet den Mitschnitt der Diskussion am 1. Oktober um 20.30 Uhr. Die weiteren 13 Konzepte aus dem Wettbewerb werden bis 30. September in den Kunstarkaden (Sparkassenstraße 3) gezeigt.