Von der Faszination der Heißtrubentfernung: Die Besserwissi-Parade Nerd Nite wird immer beliebter und füllt locker den Puerto Giesing
Ein Publikumsrenner: Wenn Bier und Wissenschaft zusammenkommen, ist meist kein Platz mehr frei (hier eine Aufnahme von der Nerd Nite im Juli). Foto: Nerd Nite München
Die Liste der menschlichen Torheiten ist fast unendlich, weil doch jeder irgendwie einen Spleen hat, sein Steckenpferd reitet oder sonstwie sein Ding macht, und sei es auch noch so abseitig. Und wir gucken uns auch gerne gegenseitig zu, wenn der andere erzählt, was er alles über parasitäre Vögel weiß, über die Kulturgeschichte der Kanaldeckelreinigung oder das Balzverhalten der Kellerasseln. Der Nerd, also die in den frühen 70ern entstandene Lebensform des jungen, schrulligen Intellektuellen, ist gerade ein bisschen in Mode, nicht nur weil Mark Zuckerbergs Lebensgeschichte ins Kino kommt. Und die Nerd Nite ist ein echter Trend, wie man in Münchens noch wenige Wochen existierenden Subkultur-Kaufhaus sehen konnte.
Im Puerto Giesing strömten gut 350 Menschen zusammen: Ein Publikum in den 20ern, fast alle tippten mit der einen Hand auf mobilen Geräten herum und hielten in der anderen ein Bier. Denn die Nerd Nite, so heißt es, ist wie „discovery channel with beer“: Es geht es um eine Mischung aus Stammtisch, Lesung und Vortrag, um das Zelebrieren von intellektueller Verschrobenheit, um Expertise, Austausch und das Gefühl, als schräger Vogel nicht allein zu sein. Im vergangenen Jahr wurde die Veranstaltung von Patrick Gruban aus den USA importiert, seitdem gehört sie zum hippen Teil des Münchner Nachtlebens.
Es war längst kein Sitzplatz mehr frei, als es (stilecht nach einem akademischen Viertelstündchen) losging. Veranstalter Gruban bot als Alternative den Boden direkt vor der Bühne an. Schnell zeigte sich, dass der große Publikumserfolg auch seine Schattenseiten hat: Zwar ist immer Stimmung in der Bude, aber wenn ein Vortrag mal etwas leiser ist und Konzentration und Aufmerksamkeit bräuchte, ist der Lärmpegel hinderlich.
So war es stellenweise beim IT-Experten Matthias Hofmann, der am Beispiel des Dioxin-Unfalls im norditalienischen Seveso von 1976 „die Kathastrophendynamik des Nichtwissens“ analysierte. Er erklärte, was damals passiert war (Supergift aus einer weitgehend ungesicherten Fabrik verseucht einen Landstrich in der Nähe von Mailand), was es mit „2,3,7,8 Tetrachlordibenzodioxin“ auf sich hat und was an dieser Umweltkatastrophe für uns heute noch lehrreich ist. Sein systemischer Schwenk zu allgemeinen Wahrnehmungsmustern bei Katastrophenfällen war hochinteressant angelegt, blieb aber im Vagen: Sie verschwanden hinter der Dramatik der Unglücksgeschichte. Aber Hofmann hatte ja, ganz Nerd, eine Literaturliste mitgebracht, „zum Weiterlesen“.
Gar kein Problem mehr war der Lärmpegel im Saal bei der Mode-Redakteurin und PR-Beraterin Katrin Hilger, denn die war selbst laut und lustig. Als studierte Kunstgeschichtlerin mit Fachgebiet Kostümhistorie referierte sie launig über „Modezumutungen aus fünf Jahrhunderten - was Mode Menschen aufzwingt“. Sie stellte „viele Sachen, die man sich gar nicht mehr vorstellen kann“ vor und würzte es mit der Urteilsfreudigkeit der Boulevardjournalistin: „Die unbequemste Mode aller Zeiten“, „völliger Irrsinn“, „etwas Dämlicheres habe ich bis heute nicht gefunden“ und so weiter. Da sah man Kragen, Schuhe, Frisuren vorwiegend aus der Zeit um 1600, als der Mensch den Humanismus zwar schon erfunden, aber noch nicht verinnerlicht und schon gar nicht auf die Mode übertragen hatte. Und die Schamkapsel für den Herrn von damals war sozusagen ein gefundenes Fressen für Hilger, denn sie konnte dem ein Bild von George W. Bush im Kampfanzug gegenüberstellen – überall mehr Schein als Sein. Das war alles spaßig, aber auch etwas sehr deskriptiv: Ein bisschen mehr Wissenschaftlichkeit und etwas weniger Kuriositätenkabinett hätten nicht geschadet.
Schaut ein bisschen wie Kraftwerk aus: IFourmance, die IPhone-IPod-IPad-Band live im Puerto Giesing, oder zumindest so live, wie es die Digitalität zulässt.
Beim letzten Vortrag von Simon Rossmann, Brauer-Student in Weihenstephan und Werkstudent der Giesinger Biermanufaktur, kam die Nerd Nite dann definitiv zu sich selbst: Es gibt kein schöneres Studienobjekt als Bier, das lebte Rossmann zum Vergnügen aller vor: „Ich sag' erst mal: Zum Wohl!“ Rossmann präsentierte die Vielfalt des deutschen Bieres, brachte Fakten gesellig rüber („5000 Sorten gibt es in Deutschland, da kann ich sieben Jahre lang jeden Tag zwei Halbe trinken wenn ich alle durchprobieren will“) und erklärte das Reinheitsgebot, die Rolle der Zutaten, der Hefestämme und der Heißtrubentfernung. Und er hatte eine geradezu politische Botschaft: „Bier soll Genuss und Kulturgut sein, ein Lebensmittel, das sich auch verändern kann, wie Wein.“ Dagegen arbeiten aber die großen Konzerne, deren einziges Ziel ist, dass ihr Bier immer gleich schmeckt: „Filtrieren, Stabilisieren – wie sehr kann ich die Leute verarschen, damit sie das Bier kaufen?“ Dass die vorzügliche Giesinger Kleinbrauerei an diesem Abend im Puerto mit einem Ausschank präsent sein durfte und für 2,50 Euro die „Untergiesinger Erhellung“ anbot, könnte man als unzulässige Vermischung von Vortrag und Werbung kritisieren – doch in Abwägung mit den so ermöglichten – rein wissenschaftlichen – Bierstudien sieht man gerne davon ab.
Die wunderbare Besserwissi-Parade endete mit Besserwissi-Musik: IFourmance spielte, eine Band, die Reggae, Disko und Pop ausschließlich mit IPhone, Ipad und IPod erzeugt. Das war auch ein Gag, aber ein sehr sinniger.
Am 22. Oktober (20 Uhr) gibt es noch eine Nerd Nite im Puerto Giesing, ein Special im Rahmen der Kunstmesse Uamo. Dabei werden sich erstmals künstlerische und wissenschaftliche Vorträge abwechseln. Für weitere Abende sucht Veranstalter Patrick Gruban noch Referenten, die sich mit den Themen Milch-/Käseherstellung und Sprachforschung beschäftigen.