Tschechow, drei Schwestern und keine Perspektiven: Ins Moskau, ins Moskau!
Das wird doch eh nichts: Georg (Maximilian Schweninger) und Mascha (Anna Maceda). Foto: Astrid Ackermann
Der Samowar bleibt im Regal, und Moskau ist weiter weg denn je: Mit Rebecca Kricheldorfs Farce "Villa Dolorosa". Drei missratene Geburtstage" transportiert die Halle 7 Tschechows "Drei Schwestern" ins orientierungslose Hier und Jetzt.
In Henry Purcells Oper "King Arthur" wehrt sich der Frostgeist gegen die Wärme der Liebe und Erotik, die ihn aufzutauen droht. Wieder einfrieren will der Eismann, endlich zu Tode erstarren. Und diese Todessehnsucht inspierte Purcell zu einer der berührendsten Arien des Barock. Über der Villa Dolorosa schwebt eingans dieser "Cold Song", von der Höhe über der Bühne gesungen von Kathrin Anna Stahl. Als könnten die Geister des Eros und der Liebe in der emotionalen Ödnis der Familie Freudenbach noch etwas erlösen...
Mit Purcells "Cold Song" hat Regisseur Rouven Costanza genau genommen eine falsche Spur gelegt. Denn in Rebekka Kricheldorfs Tschechow-Paraphrase ist es eben nicht die Liebe, die in eine bessere Zukunft leuchtet. Es ist vielmehr der Widerstand gegen die Tugenterroristin Janine (wiederum Kathrin Anna Stahl), der Irina (Eva-Maria Kapser), Olga (Gabriele Raab), Mascha (Anna Maceda) und Andrej (Martin Hagenguth) schließlich und ziemlich spät eint. Ob diese Versöhnung Perspektive hat, ob sich das Freudenbachsche Familienquartett künftig zu irgendetwas aufraffen können wird? Wir sollten skeptisch sein, angesichts dieser existenziellen Unreife.
In den über zwei Stunden vor der fast schon kathartischen Familienzusammenführung fühlt man sich meist gut unterhalten. Wie bei Tschechow auch ist die Villa ein Warteraum für Menschen, die ahnen, dass ihr Zug schon abgefahren ist. Von ihren Literatur- und Russland begeisterten Eltern wurden Alexej, Irina, Mascha und Olga nach Tschechowschen Bühnenfiguren benannt, und wie bei ihren Vorbildern mag nichts recht vorangehen. Kinder- und gattenlos geht Olga ihrer Karriere nach, Irina heckt immerzu Pläne aus, die sie im nächsten Augenblick als "Schnapsidee" abtut, Mascha steckt in einer gleichgültigen Ehe, Andrej in der Konzeption eines Romans, von dem noch nicht eine Seite geschrieben ist. Irinas Geburtstag, immerhin, wird gefeiert, irgendwie, mit nicht so spannenden Gästen und Wodka. Es gibt Geschenke, ein, zwei Samoware etwa, die prompt ins Regal wandern.
Für Tschechows drei Schwestern ist die Hauptstadt der Fluchtpunkt, "nach Moskau, nach Moskau!" heißt dort der Schlachtruf, der das Ziel vorgibt. "Das Moskau" dagegen ist hier kein Ziel, es ist der Ursprung, und zwar aller Unruhe: Im Club "Moskau" hat Andrej die etwas prollige Janine kennengelernt. Die ist anfänglich ganz nett, setzt dann aber mehr und mehr ihr Regelwerk in der Villa durch, wie Natascha bei Tschechow. Dazwischen erscheint immer wieder Georg (Maximilian Schweninger), in den sich Mascha verliebt - am Ende wird allerdings auch daraus nichts (soviel zum Frostgeist).
Tschechow stellte eine grandiose Behauptung der Vergeblichkeit auf die Bühne: Warum sollten wir uns bewegen, wenn wir doch letztlich immer am selben Ort bleiben? In sich selbst müsste man vorankommen, aber selbst dann bräuchte man einen höheren Sinn oder zumindest ein Lebensziel. Diese existenzielle Unbehaustheit wandelt sich in Kricheldorfs Bearbeitung zu einer mitunter drolligen Pannenfolge in der individuellen Lebensplanung. Absurd ist das, wenn die Figuren aus der Badewanne über ihr Elend sinnieren: "Ich glaube, ich mach Selbstmord."
In einem rohbaumäßigen Bühnenbild mit viel Styropor, leeren Bücher- und CD-Regalen und Bilderrahmen (Bühne Frank Campoi) tobt sich eine mitunter herrlich komische Folge von Banalitäten und Trivialitäten ab, man ist hier nicht wirklich auf den Weg in die Hölle, sondern, noch schlimmer, "on the highway to Mittelmaß". Laue Wärme ist eindeutig ärger als die Aussicht auf Fegefeuer. Doch um dort hinzugelangen, müssten sich Mascha und Irina auch mal aus der Badewanne hieven, in die sie sich immer wieder mal flüchten. Georg fällt schreiend auf die Knie, als er sich die bescheidenen Umstände seiner Arbeit in einer Verpackungsfabrik vor Augen führt. Dabei wäre doch ein Wechsel die naheliegende Option, seine tragische Pose entlarvt sich als Posse. Maschas Selbstmord ist auch nur eine Farce, ein Schabernack mit den Schwestern, pop-art-mäßig inszeniert. Auch der Aufstand gegen Janine hat was: Eigentlich hat die nervige Mutti ja recht, und was die Freudenbachs treiben, ist nur unverantwortlich und kindisch. Rätselhafterweise liegen dennoch die Sympathien ganz bei Andrej und den drei Schwestern. Und schon fühlen wir uns ertappt...
Wie sich's für die immer enttäuschte und daher von vornherein skeptische Postmoderne gehört, entwickelt in dieser Villa letztlich nichts Ernst und Wucht und Tragik: Vielfach ironisch gebrochen, in Geste, Intermezzos mit stereotypen Bewegungsbläufen, mit mitunter sinnentleertem Wortwechsel, geht das Ganze munter und flockig über die Bühne, wenn auch damit etwas beliebig und vor allem ziellos: In manchen Einfall scheint die Autorin selbst verliebt gewesen zu sein, was den einen oder anderen Schnörkel anstelle einer klaren Aussage erklärte. Die Fassung der Uraufführung 2009 von Jena wurde gekürzt - und hätte noch mehr Kürzung vertragen.
Sehenswert ist allemal, wie die sechs Darsteller zwischen Hysterie und Lethargie changieren, vor allem Martin Hagenguth: unaufgeregt und nuanciert spielt er den Andrej, mit Präsenz auch im Hintergrund, bei aller Komik der Tragik am nächsten. Sein Roman hat schon vor dem Start geendet.
Nächste Aufführungen 31. Juli, 3., 4., 6. August, jeweils 20 Uhr in der Halle 7 (Grafinger Straße 6).