"Auch mal an die Peripherie gehen": Bei einer Architekturfahrt hinterfragt Stadtbaurätin Merk gleich mehrere Grundsätze der Stadtplanung
Die Frage nach der aktuellen Lage der Architektur in München ist ein unendliches Streitthema, bei dem man je nach Interesse zu völlig unterschiedlichen Bewertungen kommen kann. Gute Ein- und Überblicke verschafft hier meistens die jährliche Architekturfahrt des Kulturforums der Sozialdemokratie in München mit OB Christian Ude, gerade weil die Auswahl der Projekte bewusst subjektiv ist. Das Bemerkenswerteste bei der Neun-Stunden-Tour am Wochenende war aber der Einführungsvortrag von Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Sie stellte gleich mehrere Grundsätze der Stadtplanung auf den Kopf und hinterfragte das bei Planern so beliebte Schlagwort „kreative Stadt“.
Planungs-Propheten verkünden derzeit, die Schaffung von „kreativen Biotopen“ sei die wichtigste Antwort gerade der europäischen Städte auf die urbanen Zukunftsfragen: Was tun gegen Schrumpfungsprozesse auf der einen und Gentrifizierung auf der anderen Seite? Gegen die Verödung des öffentlichen Raumes hier und die Luxus-Spekulation dort? Da fragte die Stadtbaurätin provokativ: „Aber wer sind diese Kreativen eigentlich?“, um deutlich zu machen, wie schwammig der Begriff ist: „Es wird nicht definiert, was darunter genau zu verstehen ist.“Notwendig seien ideologische Offenheit in der Debatte, aber auch klare Regeln bei der Entwicklung und Steuerung von Kreativ-Projekten. Merk: „Befördern wir nicht eine neue Klassengesellschaft, wenn wir Kreativquartiere bauen für ganz bestimmte Biotope?“ Hier hatte die Stadtbaurätin offenbar den Streit um das Gelände an der Dachauer Straße im Ohr, wo sich Künstler gegen Umbau und Neuvergabe der Flächen für ein neues Kreativquartier wehren.
Es ginge doch auch ordentlicher: Hinterlassenschaft nach "Gern 64"-Besichtigung. Foto: Michael Grill
Merk fordert klare Richtlinien für solche Projekte, was bedeute, dass auch Kreative Businesspläne akzeptieren und nach einer bestimmten Zeit wieder weiterziehen müssten. Sinnvoll wäre auch ein Münchner „Masterplan der temporären Interventionen“, mit dem die „Orte der Kreativität“ in zwischengenutzten Immobilien aufeinander abgestimmt werden können. Diese Orte sieht die Stadtbaurätin in Zukunft offenbar vor allem entlang der Bahnachse, an der Dachauer Straße sowie generell im Münchner Norden.
Und da Merk gerade in Fahrt war, bekamen auch noch die „Urbanauten“ als Münchner Kreativ-Mogule ihr Fett ab (auch wenn sie nicht namentlich genannt wurden): „Es hat keinen Sinn, sogenannte Kulturstrände nur auf den drei attraktivsten Plätzen der Stadt errichten zu wollen. Mein Appell an die Kreativen ist, an die Orte zu gehen, die man erst noch entdecken muss, zum Beispiel an der Münchner Peripherie.“ Auch solle man „Kreativität nicht mit der Event-Industrie verwechseln“. Elisabeth Merk schloss selbstkritisch: „Kreativität ist nicht planbar. Oft entsteht sie ganz woanders als erwartet.“
Dermaßen intellektuell aufgekratzt startete die Architektur-Tour. Ein Fazit vorneweg: Spektakuläres entsteht in München meist im Verborgenen. Und der schönste Bau muss nicht unbedingt ein Bauwerk sein. OB Ude, der den Reiseführer machte, ließ zwischen den Stationen erkennen, dass er große Hoffnungen hat, im Zuge der Bundeswehr-Reform neue Möglichkeiten für städtische Planungen zu bekommen, da „der Bund mit Militärflächen nur in München richtig gute Erlöse erzielen kann“. Soll heißen: Er rechnet damit, dass die Bereitschaft, im Stadtgebiet Bundeswehrareale aufzugeben, noch erheblich steigen wird. Dann ging’s los mit der Entdeckungstour:
Gern 64
Das Neu- und Umbauareal in der Nähe des Taxis-Biergartens gehört zu den Vorzeigeprojekten der Stadt für innovativen Wohnungsbau. Im und am alten Heilig-Geist-Spital wurden unter Führung der Wohnungsbaugesellschaft Gewofag auf engem Raum nebeneinander drei völlig unterschiedliche Konzepte umgesetzt, die gemeinsam aber wieder ein geschlossenes Bild abgeben: Im denkmalgeschützten Altbau entstanden neue Wohnungen, die mit einem Neubaublock eine Einheit um einen gemeinsamen Hof bilden, und am Nordrand des Areals grenzen drei sehr individuelle Wohnhäuser die Siedlung zu einem (Natur-)Biotop hin ab. Letztere bieten durch geschwungene Glasfronten ungewöhnlich offene Wohngrundrisse – und provozierten bei der Besichtigung auch eher praktische als ästhetische Fachfragen: „Wie oft muss man das reinigen?“ Die Antwort „Nur zweimal im Jahr“ sorgte für ungläubiges Staunen. Und die mitfahrende ehemalige Stadtbaurätin Christiane Thalgott erinnerte daran, was für einen „Riesenkampf“ die Planer um das Projekt mit den Anwohnern führen mussten, da diese es – natürlich – für überdimensioniert hielten.
Theresienhöhe
Das Neubaugebiet auf dem Gebiet der alten Münchner Messe ist ja für die Münchner fast schon ein gewohnter Anblick. So ergibt sich die Möglichkeit zu einer Bilanz. Der Wille zur Kunst und die städtische Kunst-am-Bau-Institution Quivid wirken besonders segensreich bei einem unter schwierigen Umständen und finanziellen Belastungen entstandenen neuen Stadtviertel.
Das beginnt bei den ungewöhnlichen, unter eine Brückenrampe integrierten (und nur durch Förderung der Firma Fondara möglich gewordenen) Künstlerateliers – und findet seinen Höhepunkt im gewaltigen Landschaftskunstwerk von Rosemarie Trockel über dem sogenannten Bahndeckel. Baureferentin Rosemarie Hingerl findet es „nicht nur künstlerisch, sondern vor allem auch städtebaulich sehr gelungen“, vergisst aber nicht hinzuzufügen, dass diese Form der Planung „ein teurer Spaß ist“: Nachdem die Sanierung des Bahndeckels schon fünf Millionen Euro verschlang, kostete die oberirdische Gestaltung fast noch mal so viel. Die riesige Kunst-Spielwiese sei ein „großer Erfolg bei Kindern und Jugendlichen“, so Hingerl. Andere Exkursionsteilnehmer mit Wohnsitz in der Nähe raunten, dass dies leider Wunschdenken sei.
ADAC-Zentrale
Sie haben's mit den Farben: Der ADAC-Turm von Sauerbruch-Hutton durch ein Fenster im Sockelgeschoss gesehen. Foto: Michael Grill
Endlich mal richtig große Architektur, dürfte mancher gedacht haben: Ein 87-Meter-Turm, der in 22 Gelbtönen leuchtet, plus umliegende Sockelgebäude; 300 Millionen Euro Gesamtkosten, ADAC-Zentrale für 2500 Menschen. Geschäftsführer Stefan Weßling sprach trotz eines beeindruckenden Foyers mit einer gewagt schwungvollen Deckenkonstruktion lieber von den flexiblen Arbeitsmodellen: Niemand hat mehr einen festen Schreibtisch, alle sind mobil mit Laptop et cetera. Vielleicht lag das daran, dass der ursprüngliche Architektur-Plan der Architekten Sauerbruch Hutton aus Spargründen doch arg gestutzt worden war. Derzeit ist alles Baustelle, doch schon im November will der ADAC einziehen.
„Medienkloster“
Das war die eigentliche Entdeckung: Der Umbau des alten Kapuzinerklosters St. Anton an der Kapuzinerstraße für das Erzbistum München zu Journalistenschule, Pfarrzentrum und Kernkonvent durch die Architekten Hirner und Riehl. Welcher Münchner kennt das schon? Die sehr heruntergekommene Heimat des geschrumpften Bettelordens ist nun ein Kleinod meditativer Bildungs-Architektur: Maßgeschneidert für die neuen Funktionen, die Herkunft immer offen zeigend, selbst wenn die „Schmerzhafte Kapelle“ nun zum Teil ein TV-Studio ist.
Neue Isar
Was hat die Isar mit Architektur zu tun? Sehr viel, wie Baureferentin Hingerl klar machte: elf Jahre Bauzeit, acht Kilometer Strecke, Millionen bewegte Kubikmeter Erde und 35 Millionen Euro Kosten. Ein Hochleistungs-Wasserbau mitten in der Stadt, an dessen Ende nicht nur ein besserer Hochwasserschutz steht, sondern auch ein ganz neues Fluss-Gefühl für eine Großstadt. Die Renaturierung der Isar ist für Planer wie für die Münchner ein Riesenerfolg. Allerdings darf die Natur weiter bauen: Stadtbaurätin Hingerl zitierte einen ihrer Kollegen vom staatlichen Wasserwirtschaftsamt: „Wir haben einen Rohbau hingestellt. Farbe und Putz kommen im Laufe der Jahre von ganz alleine.“ Die Natur als bester Architekt.