Speicherpläne abgewehrt, und jetzt fährt auch die alte Bahn wieder - das Ilztal ist gerettet
Ein Kahn voll junger Leute. Ihre bunten Pullis spiegeln sich im Wasser, einer zupft eine Gitarre. Ein Angler hat einen riesigen, lachsartigen Huchen an der Leine, fast nur noch hier ist dieser „König des Süßwassers“ heimisch. Fünf Kajakfahrer sind eben die glitzernden Kaskaden der Dießensteiner Leite heruntergepaddelt. Angelegt wird an der Schrottenbaumühle. Kinder spielen auf harzduftenden Baumstämme, müde Wanderer hocken beim Weißbier. Sommer-Bilder aus einer der schönsten Flusslandschaften Europas, aus dem letzten unverbauten Wildwassergebiet Ostbayerns, dem Ilztal.
Aus Quellsümpfen und Hochmooren des Bayerischen Waldes springt der Fluss über moosbewachsene Steine, über Kies und Felsgeröll noch ungebändigt und trinkwasserklar durch eine Urlandschaft, die eine "Wärmeleitlinie" zwischen Donautal und dem kühlen "großen Wald" bildet und deshalb eine Vielzahl seltener Pflanzen, Käfer und Fische beheimatet, viele stehen auf der Roten Liste. Zu beiden Seiten wird der im Sonnenlicht wirbelnde Waldfluss von Wegen begleitet. Sie sind gut markiert, einer als historischer „Pandurensteig“. Schattig sind sie und an manchen Uferstellen ausgespült.
Ein Stück begehbarer, hautnah erlebbarer Wildnis. Neuerdings führt wieder ein Personenzug regelmäßig mitten hinein in dieses Wasserwunderland für Wanderer, Botaniker, Ökologen, Angler und Kanuten. Dort begegnen sich also jetzt: ein Naturjuwel erster Güte und ein Kulturdenkmal ersten Ranges. Beide waren in ihrem Bestand hoch gefährdet, beide wurden allein durch Bürgerinitiative gerettet.
Jahrzehntelang hatten allerlei Interessenten versucht, dieses Wildwasser zu "vermarkten". Einem Millionär war es zusammen mit kurzsichtigen Kommunalpolitikern beinahe gelungen, der Ilz in ihrem wildesten Teil das Wasser abzugraben, um ein Minikraftwerk und einen Stausee in die Landschaft zu pressen. Protest. Der Fall wurde zu einem „Prüfstein für die Umweltpolitik in der ganzen Bundesrepublik" - so Hubert Weinzierl, der Pionier vom Bund Naturschutz, welcher schnell genug eine Reihe von Sperrgrundstücken aufkaufte. Fast 40 000 Bürger unterschrieben den Aufruf "Retter die Ilz". Die Regierung von Niederbayern lehnte das Energiegewinnungsprojekts ab.
Kaum hatten die Naturfreunde Oberwasser, beantragte ein anderer Investor ein Raumordnungsverfahren für ein noch gewaltigeres, bereits bis in alle Details ausgearbeitetes Projekt, das "Ostbayern vor einer Energiekrise bewahren" sollte. Der Mann wollte nun zwar die urwüchsige Wildwasserstrecke verschonen, dafür aber die Ilz ein Stück weiter oben anstauen und ausbeuten. Mit touristischen Visionen köderte er die Bürgermeister ringsum: Ein drei Kilometer langer Stausee könnte abfallen, mit kleinen Buchten für Ruderboote, Windsurfplätzen, Liegewiesen, Wanderwegen. Fischerpfaden und "leider unvermeidlichen Parkplätzen".
Vernünftige Touristiker im Landkreis Passau setzten statt dessen auf den Ausbau des rund 50 Kilometer langen Ilz-Wanderweges von der Quelle bei Preying bis zur Mündung in die Donau in der Ilzstadt von Passau. Ausgerüstet mit Hinweisen auf geologische und biologische Besonderheiten, mit wenigen Brotzeithütten und Grillplätzen, mit Holzdriften und anderen sichtbar gemachten Zeugnissen früher Industrie- und Wirtschaftsgeschichte Auf diese Weise sollte das Ilztal ein Pendant zum Nationalpark Bayerischer Wald werden und zur Belebung des Fremdenverkehrs beitragen, besser jedenfalls als eine Kunstlandschaft es je könnte.
33 Gemeinden der Landkreise Freyung-Grafenau und Passau verbündeten sich in den 80-er Jahren zu einer noch weiter gehenden, in Europa einzigartige Initiative: Die Ilz und ihre ebenso wilden Zuflüsse sollten für alle Zeiten als Lebensraum bedrohter und seltene Arten erforscht, stabilisiert und verbessert werden. Als Logo, das auch die Wege kennzeichnet, wählte man die Flussperlmuschel, sie gilt als Gütezeichen für die Wasserqualität schlechthin. 1997 wurde das obere Tal der Ilz zum Naturschutzgebiet erklärt. Gerettet!
Inzwischen hatte sich der Interessenkonflikt auf den Bahndamm verlagert. 1982 stellte die Bundesbahn auf der Nebenstrecke Passau-Freyung den Personenbetrieb ein. Nur noch Güterzüge rollten, beladen mit Panzern der Bundeswehr; bis es 2001 ganz still wurde. Die Anlagen der 1890 vollendeten Ilztalbahn fraß der Rost und umwucherte der Wald. Die kleinen Bahnhöfe schnappten sich private Käufer. Unrentabel, sagten die Verkehrsstatistiken.
Und wieder setzten Heimatfreunde alle Hebel in Bewegung, um auch dieses technische Relikt zu retten. Zur Freude insbesondere der Touristen, denn kaum ein anderer Schienenstrang Ostbayerns durchquert eine derart schöne Schluchtlandschaft. Jedoch: Zweimal scheiterte ein Bürgerbegehren an der Zwanzigprozenthürde sowie am Desinteresse von Wirtschaftsminister Erwin Huber und anderen CSU-Mandatsträgern; diese sahen keinen Verkehrsbedarf und hätten auf dem Bahndamm lieber einen Radweg gesehen.
Aber die mittlerweile 600 Mitglieder eines Fördervereins gaben nicht auf. Sie konnten durch Fachgutachten glaubhaft machen, dass eine Nostalgiebahn durchaus wirtschaftlich wäre. Fünfzig Freunde der alten Ilztalbahn beseitigten den Wildwuchs von den Gleisen, schotterten den Damm, rissen im aufgelassenen Bahnhof von Freyung den Asphalt weg und bauten neue Bahnstationen, auch wenn eine davon vorerst nur aus einer Bierbank besteht. Vor allem gewann der Förderverein einen erfahrenen Betreiber: die Rhein-Sieg-Eisenbahnen, die zwischen Koblenz und Dortmund etliche Ausflugsrouten befährt.
Natürlich wurde auch ein attraktiver Fahrplan ausgetüftelt. Bis Ende September fährt die Bahn an Wochenend- und Feiertagen jeweils vier Mal, im Oktober noch drei Mal von Passau nach Freyung und zurück, was einfach neun Euro kostet. Rund zehn der insgesamt knapp 50 Kilometer langen Fahrstrecke verlaufen direkt oder hoch über der Ilz, der „schwarzen Perle des Bayerwaldes“. Die Taktung erlaubt es, an beliebigen Haltestellen auszusteigen und bis zum nächsten Zug ein oder zwei Stündchen zu wandern.
Zum Beispiel von Kalteneck aus bis zur kulturhistorisch interessanten Schrottenbaummühle oder hinauf nach Fürsteneck, wo einmal die Grenze zwischen dem Herzogtum Baiern und dem Fürstbistum Passau verlief, oder zum Feriengutshof Feuerschwendt mit Biergarten, Pferden und "Hochzeitshäuschen" im Backhaus. Man könnte auch hinaufsteigen ins „Dörfchen Prag“, das der Dichter Hans Carossa 1898 bei seiner literarisch veredelten Drei-Tage-Wanderung zum „Dichterweib“ Emerenz Meier durchquert hat. Deren Elternhaus in Schiefweg, das ebenfalls von einer Bürgerinitiative aufgekauft und in ein rustikales Gasthaus samt Gedenkstätte verwandelt wurde, wäre gleichfalls einen Abstecher von der Ilztalbahn aus wert; vom restaurierten Bahnhof Waldkirchen aus wandert man eine halbe Stunde leicht bergan.
In Waldkirchen – und das ist der Clou der neuen Ilztalbahn – besteht direkter Busanschluss nach oder von der Grenzstation Neuthal (Nové Udoli) bei Haidmühle mit Anbindung an das tschechische Staatsbahnnetz nach Krumau, Budweis und Winterberg, in Freyung kann man umsteigen in den Bus zum Nationalpark Bayerischer Wald. Aus der Hauptstadt Prag liegt eine Zusage zur Streckensanierung vor, und Interregio will 1,67 Millionen Mark zu dem ganzen großartigen Projekt zuschießen.
Karl Stankiewitz