Vom Extremwert des Normalen: Ruth Geiersberger mit "und jetzt" im i-camp

von Michael Wüst

"Verrichtung über das Warten" Foto: Michael Wüst

"Verrichtungen über das Warten" untertitelt Ruth Geiersberger ihre Performance „und jetzt“. Als Grundlage hatten Studien, Feldforschungen unter Demenzkranken gedient. Was dabei herauskam, war, weit über Fragen der Krankheit hinaus, eine Impression über Qualitäten und Atmosphären der privaten und gesellschaftlichen Zeit.

Als erreichte man in der Krankheit einen Extremwert des Normalen, erschien am Ende dieses wort- und bildstarken Abends im i camp die Krankheit des Vergessens wie ein Turm mit Aussicht auf Wesentliches der real existierenden Gesellschaft.

Zu Beginn: Das Publikum sitzt an Tischchen mit Lämpchen. Das gemahnt an die klassischen Durchgangsräume der Erinnerung, Hotels, Ballhäuser, Luxusliner. Im Publikum, die Gespenster des Vergessens, die Spieler. Ein wartender Tubaspieler (Wolfgang Schlick) definiert das rückwärtige Ende des Raumes. Neben ihm produziert Klaus Janek (Komposition, Engineering) suggestive Sounds, die sanft und unablässig pulsieren wie offene Leitungen einer kosmischen Hintergrundstrahlung. Zwei Screens werden bespielt von den Arbeiten des Videokünstlers Manuel Heyer. Die Texte sind von Max Frisch, Herta Müller, John Cage, Ernst Jandl, Hanns-Josef Ortheil, Rainer Maria Rilke sowie von Demenzkranken und Wissenschaftlern. Als „Warteschnipsel“ fungieren Philosophenzitate, die per PC an die Rückwand geschrieben werden und als Code für eine Spielsequenz dienen können. Die Spieler, Ruth Geiersberger, Martin Pfisterer, Judith Hummel und Egmont Körner verwenden einzelne „Module“ (dramaturgische Beratung, Beate Zeller), die sie jeden Abend anders figurieren. Sie reagieren somit auf die Interferenzen zwischen dem Publikum und der Szene.

Man sagt, die Zeit vergeht. Richtiger wäre wohl, dass wir es sind, die vergehen. Und möglicherweise ist es die Krankheit der Demenz, die gerade eine Übereinkunft der sozialen Zeit aufhebt, Illusion eines linearen Kontinuums, auf dem sie sich fortentwickeln soll, ermuntert vom Wechsel von Tag und Nacht. Messungen, Wiederholungen, all das, selbst das Warten gerät in Ruth Geiersberger Performance zu einer Chimäre der Zeit, die im Fokus des Wartens noch weiter entschwindet, selbst Chimäre werdend.

Es gelingen starke Momente der Verlangsamung zwischen den Texten. In den Texten geschehen regelrechte Vereinsamungen des Wortes. „In der letzten Nacht des Jahres muss Frau Schulze zwischen Dunkel und Schnee in ihrem Kopf über etwas gestolpert sein, das ihr unerledigt vorkam. Vielleicht war es ein Vogelkäfig, den sie irgendwann zu lange in einem kalten Hausflur stehen gelassen hat, auf der Suche nach frischem Vogelsand. Auf der Suche nach dem Vogelsand hatte sie den Vogel vergessen. Den sucht sie jetzt vierzig Jahre später.“ (Judith Kuckart)

Die Bilder des Videokünstlers Manuel Heyer kommentieren die Texte kongenial, sie atmen wie die gelösten Worte den Verlust der Erinnerung, des Sozialen. Ein leerer Paternoster fährt durch Etagen, als wäre es der Aufzug selbst, der in die Hülsen der Häuser schaut. Alltagsverkehr, Gewimmel an Trambahnen, Wischer von Kleidung, Wind, Gewimmel. „Seltsam, die Dinge machen den Eindruck, als wären sie normal, harmlos und einfach zu durchschauen, und doch, etwas stimmt nicht mit ihnen“ (Arno Geiger)

Auf zerschossenem Feld, zwischen geschmolzenen Uhren, zwischen Worten, die ihren Satz suchen, in der gnadenlos abgewickelten Konsequenz des Zerrinnens, dann doch ein seltsames skurriles Aufleuchten: Waren Ruth Geiersberger und Martin Pfisterer einmal ein Ehepaar?

Ganz aufgeräumt, ein bisschen aufgeregt, beruhigen sie die „Umsitzenden“. Wir wollen nur kurz unsere Musik hören! Sie haben diese karierte Wolldecke dabei, die man aus den 50er Jahren oder ihren Filmen kennt: das Plaid. Das wird sorgfältig auf den Boden gelegt zu Füßen der Besucher. Judith Hummel erkennt man jetzt hantierend an einer Musiktruhe derselben Zeit. Starr und Händchen haltend lauscht das liegende Paar zu den Klängen von „Grün ist die Heide“. Es mag ja viel verschwunden sein, jedoch das Gespenst der Ehe lässt sich nicht vertreiben und Loriot winkt ein bisschen aus dem Jenseits.

 

Veröffentlicht am: 12.10.2011

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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