Neues vom Spielart-Festival: Wann ist ein Leben mehr als eine Existenz?

von Gabriella Lorenz

„The Sonic Life of a Giant Tortoise“: Auf der Suche nach echten Gefühlen, Foto: Veranstalter

Die Leiter Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger betonen, sie hätten für das 9. SpielArt-Festival kein Thema gesetzt. Dennoch dominiert die Frage nach Lebensformen, Zukunft, Glück, Sinn der Existenz. Die Untersuchungen könnten nicht konträrer sein als in den beiden Theaterproduktionen aus Japan zur Festival-Eröffnung.

Streng züchtigten Regisseur Toshiki Okada und die Gruppe chelfitsch das Publikum mit „The Sonic Life of a Giant Tortoise“. Die Riesenschildkröte - wohl die japanische Gesellschaft - hört eine endlos plappernde Selbstreflexion des Ich-Erzählers. Fünf Darsteller sprechen wechselweise, ohne eine Rolle zu spielen. Okada trennt in dem kopflastigen Diskurs bewusst Bewegung von Text. Überdimensionierte, abstrahierte Alltagsgesten konterkarieren die Suche eines angepassten Enddreißigers nach echten Gefühlen: Wäre seine Freundin tot, könnte er wenigstens Schmerz empfinden. Er verliert sich in einer U-Bahn, gerät in eine Party und sehnt sich doch nur ernüchtert nach einem wirklichen Leben.

„Castle of Dreams“: Vögeln, saufen, fressen, Foto: Veranstalter

Radikal ins naturalistisch-sinnliche Extrem treibt der Regisseur Daisuke Miura mit der Gruppe potudo-ru seine acht Bewohner des „Castle of Dreams“. Das Schloss der Träume ist eine versiffte Ein-Zimmer-WG mit Matratzenlager, eine Trashbude, voller Anime- und Pop-Kitsch. Da gibt's nur wort- und wahlloses Vögeln, Saufen, Fressen, TV-Apathie, Torkeln und Kriechen zum Kühlschrank. Am Ende weint ein Mädchen im Schlaf - aber niemand reagiert. Miura macht die Zuschauer zu Voyeuren durch das Fenster zur WG. Und trotz aller bis zur Ejakulation realistisch gezeigten Sexszenen ist dieses schonungslose Ausstellen eines perspektivlosen Dahinvegetierens nicht obszön. Es ist raffiniert und virtuos durchkomponiert bis zur kleinsten Geste und dem kleinsten Geräusch: ein perfektes Kunstwerk. Mit erschreckender Aussage - denn es dürfte auch in Europa und Amerika genug solcher (Nicht-)Existenzen geben (heute und morgen im i-camp).

So bewusstlos werden hoffentlich die Kids zwischen 8 und 14 einmal nicht leben, die die britisch-deutsche Truppe Gob Squad in „Before Your Very Eyes“ zu ihren Zukunftserwartungen befragt und sie mit Maskierungen verschiedene Lebensalter simulieren lässt. Die Ergebnisse („Was würde ich mit Mitte 40 anders gemacht haben wollen?“) sind nicht sonderlich relevant, aber aus dem Mund entzückend frischer Kinder stoßen sie zum Nachdenken an.

„Tagfish“: Warten auf das große Geld, Foto: Veranstalter

Die verpatzte Zukunft einer Region zeichnet das Künstlerduo Berlin aus Brüssel mit seiner Video-Installation „Tagfish“: Da sitzen Lokalpolitiker per Video am Konferenztisch und warten auf einen Scheich, der angeblich in den Ausbau der Zeche Zollverein zur Designstadt investieren will. Pech gehabt. Die intelligenten Collage von Interviews mit den realen Planern des realen Projekts macht viel klar über Kommunikationsprobleme in der realen Politik.

Eine zauberhafte Randglosse bieten die beiden Finnen Juha Valkeapää und Taito Hoffrén mit „10 Journeys to a Place Where Nothing Happens“ im Zelt hinter dem Gasteig. Auch Warten, Schweigen, Pfannkuchenbacken und Erzählen von Geschichten, in denen nichts passiert, kann eine Lebensform sein. Bis Mittwoch – die Pfannkuchen sind unglaublich lecker-locker!

 

 

SpielArt-Festival bis 4. Dez. 2011, Info www.spielart.org, Karten Tel. 0180 54 81 81 81

Veröffentlicht am: 21.11.2011

Über den Autor

Gabriella Lorenz

Gabriella Lorenz ist seit 2010 Mitarbeiterin des Kulturvollzug.

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