Nachdenkliches Finale bei Spielart: She She Pop und die hundert Macken des King Lear

von Michael Weiser

Vererben, aber richtig: She She Pop variieren das King-Lear-Thema. Foto: Spielart

Spielart 2011 endete mit einem Höhepunkt: In "Testament" traten die Frauen der Hamburg-Berliner Performancetruppe "She She Pop" gemeinsam mit ihren Vätern auf - und deckten in der Muffathalle anhand des Generationenvertrages spielerisch die Aktualität von Shakespeares "King Lear" auf.

Wohin nun mit den hundert Rittern des König Lear, wo soll er standesgemäß seinen Lebensabend im Kreise seiner Krieger verbringen, welche seiner Töchter soll ihm Unterkunft bieten? Auf fünfzig Ritter handeln ihn seine Töchter herunter, auf fünfundzwanzig schließlich - und wozu braucht er überhaupt noch welche? Man weiß, es gibt ein übles Geschacher, das Erbe ist willkommen, der Vererbende - keinesfalls. Verkompliziert wird die Angelegenheit beim Lear dadurch, dass drei Töchter Ansprüche erheben.

Vererben war niemals leicht, und es ist nicht leichter geworden. Die Verhandlungsmasse zwischen den Generationen machen die Darstellerinnen von She She Pop und ihre Väter, machen also Fanni und Peter Halmburger, Mieke und Manfred Matzke, Ilia und Theo Papatheodorou und Berit Stumpf zum Thema ihres Stückes "Testament". Der Lear von Shakespeare gibt sozusagen die Tapete ab für das Wohnzimmer, worin Väter und Töchter ihre Ansprüche diskutieren.

Die Bühne von Sandra Fox stiftet schöne Bilder. Die drei Väter, wie bei Shakespeare durch Trompete angekündigt, betreten die Spielfläche und lassen sich in Sessel (oder Throne?) zurücksinken. Über Kamera werden die Gesichter der Drei in Bilderrahmen übertragen, drei übergroße Väterportraits an der Wand des Wohnzimmers.

Nun gilt es, sich übers richtige Vererben einig zu werden. Wunderbare Szenen entwickeln sich daraus. Physiker Matzke rechnet per Differenzialgleichung aus, wie Lear optimal hätte abdanken sollen: Nicht sofort alles geben - der entsprechende Liebesimpuls seiner Töchter wäre zwar steil angestiegen, dann aber um so jäher abgefallen, um schließlich in Verdruss umzuschlagen. Nach dem Tode vererben? Der Liebesimpuls würde sich nur in Blumen auf dem Grab niederschlagen, nichts, von dem ein König noch etwas hätte. Schrittweises Abgeben bis zum präzis vorausgeahnten Ableben wäre die richtige Taktik, beweist der Physiker in einem fulminanten Exkurs, der in der Muffathalle großen Szenenapplaus lostritt.

Die Töchter machen Gegenrechnungen auf. Wie steht es mit den Kinderlosen? Haben die nicht Anrecht darauf, dass der Vater ihnen die Zeit auszahlt, die er in die Kinder der glücklicheren Geschwister investiert? Auf Hunderttausende Euro summieren sich die Enkel-Jahresstunden. Zwischendurch lässt man sich aufs Sofa sinken und singt gemeinsam: And then I go and spoil it all by saying something stupid like I love you...

Solche Szenen, dicht und süffig, erwecken hohe Erwartungen, die das halbdokumentarische Stück von She She Pop nicht immer einlöst. Man ist dicht dran am wahren Leben, sehr dicht sogar - eine Nähe, die in Verbindung mit dem starken theatralischen Impuls schon auch mal in Betroffenheit umkippen kann. Da sich, namentlich in der großen, so aber auch durchaus schon mal gesehenen Vergebungsszene, das Stück ein wenig dehnt, hat man als Zuschauer viel Gelegenheit, seine düsteren Gedanken abschweifen zu lassen. Die Gefahr, seine Eltern verfallen zu sehen und neben diesem Memento mori auch noch ungeheure Kosten und Mühen tragen zu müssen, sieht schließlich jeder Jüngere. Man denkt an den alten König in seinem Reich, an einen der Überraschungserfolge heuer auf dem Buchmarkt.

Die Töchter übernehmen von ihren Vätern Stiefel, Hosen, Pollunder. Mit diesen Herrschaftsinsignien versehen, thronen sie in ihrer Väter Sessel. Am Ende singen Ilia und Theo Papatheodorou nochmals "Something Stupid", ein anrührendes Duett, per Beamer geworfen auf einen Sargdeckel, gemeinsam erst, dann getrennt. Die Einspielung erlischt, die beiden Teile des Sarges bleiben wie Grabstelen stehen.

Sterben werden wir alle, wie wir die Zeit bis dahin gemeinsam verbringen sollten, legt die Truppe nahe: liebend und mit Nachsicht. Von seinen irdischen Reichtümern will Vater Matzke lassen. Aber seine Macken, seine Marotten und Unzulänglichkeiten, hundert an der Zahl, wird er wohl mitbringen, wenn er bei der Tochter einzieht. Da wären sie wieder, die hundert Ritter des King Lear. Lassen wir sie ihm, in Gottes Namen.

Veröffentlicht am: 07.12.2011

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

Weitere Artikel von Michael Weiser:
Andere Artikel aus der Kategorie