Prachtkirchen und Pioniere - Ingolstadt schenkt Marieluise Fleißer zum 110. Geburtstag ein Denkmal
Lange, allzu lange war sie in ihrer Heimatstadt verfemt und schließlich vergessen. Da teilte Marieluise Fleißer das zeitweilige Schicksal einiger Kollegen: Heinrich Heine in Düsseldorf, Thomas Mann in Lübeck, Ödon von Horvàth in Murnau oder Bert Brecht, der eine Zeit lang ihr Freund und Förderer war, in Ausgburg. Eine pensionierte Bibliothekarin erst kümmerte sich um den ungeordnet im Stadtarchiv lagernden Nachlass und führte die verlorene Tochter heim.
Erst vor zehn Jahren, zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin, wurde in der Kupfergasse 18 in Ingolstadt, wo sie zur Welt kam und ein halbes Leben verbracht hatte, eine Dokumentationsstätte eingerichtet. Nun, im 110. Geburtsjahr hat die Autostadt ihrer spät entdeckten Autorin ein ganzes Bukett von Ehrungen zugedacht. In der Theresienstraße bekam sie ein Denkmal. Etwas kümmerlich zwar steht das 90 Zentimeter große Bronzeabbild der immer schick gekleideten Femme fatale im Herzen der Fußgängerzone, nur wenige Schritte entfernt von ihrem kleinen Tabakladen, der nicht viel abwarf und heute nicht mehr existiert, und vis-a-vis der - soeben von einem Konzern geschluckten - Ganghoferschen Buchhandlung, wo sie als Mädchen so gern in Modejournalen geblättert hatte.
Am Geburtstag, dem 20. November, verlieh die Stadt auch, wie alle drei Jahre, den mit 10000 Euro dotierten Marieluise-Fleißer-Preis, den zuvor schon Herta Müller und Franz Xaver Kroetz bekommen hatten. Jetzt ging er an Sybille Lewitscharoff, die laut Jury zu den bedeutensten und innovativsten Aurorinnen im deutschen Sprachraum gehört. Außerdem glänzte das Stadttheater mit einer, so die Kritik, "mutigen und klugen Uraufführung" des dramatisierten Fleißer-Romans "Eine Zierde für den Verein", der in einer Provinzstadt zu Zeiten einer Wirtschaftskrise spielt.
Vielleicht noch eindrucksvoller sind Spaziergänge auf ihren Spuren, die auch als Führungen angeboten werden. Kaum eine Örtlichkeit in Ingolstadt, die sich nicht irgendwo im dichterischen Werk der Fleißer wiederfindet. Auf ihren Spuren spazieren heißt eine Stadt erleben, in der nach dem Empfinden der Dichterin "Geheimnis und Amerika dicht nebeneinander liegen", die Größe der Geschichte, die kleinbürgerliche Enge und die Zeit, als sie "nicht leben und nicht sterben konnte". Einer Stadt, die sich schließlich zur Großtecfhnik bekannte, welche hier vor allem die Mineralöl- und Automobilindustrie bestimmen. Ingolstadt ist die jüngste und die am schnellsten wachsende Stadt im Freistaat.
Doch auch die alte Zeit ist noch präsent, wie von der Fleißer topografisch genau beschrieben: "Die Altstadt hat neun Kirchen, ein Männer und zwei Frauenklöster. Sie hat vier Hauptstraßen, die genau im Zentrum ein Kreuz bilden. Die beiden Balken sind von einem Stadttor bis zum anderen einen Kilometer lang. Sie hat zwischen diesen Balken ein Gewirr von alten, oft krummen Gassen, die nach Zünften benannt sind oder andere altertümelnde Namen tragen. Sie heißen Am Bachl, Am Lohgraben, am Pulverl ..." In diesem Milieu hat sie 60 Jahre ihres Lebens verbracht, hier spielen die meisten ihrer Stücke und Erzählungen.
Lesungen und szenische Aufführungen finden im Geburtshaus statt, die nächsten wieder im März nächsten Jahres; bis dahin läuft dort auch eine Sonderausstellung "... den Stein ins Rollen gebracht". Die Werkstatt des Vaters, eines Geschmeidemachers, ist im Originalzustand zu sehen. Dazu ihre Bücher, viel Handschriftliches und Biografisches und einige ihrer modischen Kleidungsstücke. "Die Kupfergasse war eine schöne Straße zum Spielen", erinnert sich die Fleißer in "Kinderland". Sie kam ihr vor wie ein Saal ohne Dach. "Es war eine intime kleine Welt, die noch nicht versehrt war."
"Man versteht die bayerische Provinz besser, wenn man Marieluise Fleißer liest," hatte vor einem Menschenalter der Literaturpapst Herbert Ihering geschrieben. Sperr, Fassbinder und Kroetz traten erst später in Fleißers Fußstapfen - sie nannte sie "alle meine Söhne". Ihering begeisterte sich, ebenso wie sein Antipode Alfred Kerr, besonders an ihrem Stück "Pioniere in Ingolstadt". Schlagartig hatte es 1929 die Festungsstadt an der Donau im ganzen Reich bekannt gemacht, weil es einen Skandal ausgelöst hatte. Eigenmächtig hatte Brecht als Regisseur das von ihm angeregte Frühwerk der von ihm nach Berlin geholten Theaterstudentin zu einer Provokation gegen das Militär umfunktioniert. Gegen den Bürgermeister ihrer Heimatstadt musste sie deshalb einen Verleumdungsprozess führen. In einem offenen Brief schrieb sie: "Aus Ingolstadt schrieb man mir sogar, dass man mich totschlagen würde. Seid doch nicht gleich so derb, liebe Leute. Da hätte ich ja, wenn es nach euch ginge, in meinem Stück ganz anders derb sein müssen, um den volkstümlichen Ton zu treffen."
Erst 1978 haben die Ingolstädter das Skandalstück aufgeführt und ihren Frieden gemacht mit der Frau, die immer nur und immer wieder über Ingolstadt schrieb, "weil ich in Gottes Namen die Menschen da unten mit ihren tausend Schwierigkeiten liebe". Und die ihre Vaterstadt (und ihren schwerkranken Mann) auch dann nicht verlassen wollte, als ihr Brecht 1956 den Umzug nach Ostberlin anbot. "Die Stadt blieb an mir haften," notierte sie in Erinnerung an ihr Erstlingsstück "Fußwaschung", das Brecht in "Fegefeuer in Ingolstadt" umgetitelt hatte.
Begraben wurde Marieluise Fleißer 1974 auf dem Westfriedhof, zu dem die Straße hinter dem Kreuztor führt, "kerzengerade ... kriegsgefangene Franzosen haben sie einmal begradigt."
Ein Katzensprung zum Liebfrauenmünster mit den 91 Bildtafeln am Prachtaltar von Hans Mielich. Ludwig der Gebartete, Herzog von Bayern-Ingolstadt, wollte zu der ohnehin imposanten Hallenkirche die höchsten Türme im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bauen. Aber weil er den Krieg gegen das Herzogtum Bayern-Landshut verlor, ging 1425 das Geld aus. So stellte die Fleißer fest: "Die altroten Türme ... stehn wie abgebunden unter metallischen Zwiebelhauben." Sie war eine Stadtbeobachterin ohnegleichen.
Alle Kirchen in der einstigen deutschen Jesuitenhochburg hat sie, die das katholische Kleinstadtmilieu bedrückte, irgendwo genannt; nur Maria de Victoria nicht. Diese war als Betsaal (mit Weinkeller) einer Studentenkongregation zu ihren Zeiten noch nicht für jedermann zugänglich. Heute aber glänzt das Asam-Meisterwerk, das die Brüder mit dem größten Flachdeckenfresko der Welt gekrönt haben, strahlend hervor unter den Rokokojuwelen Bayerns.
Am Rand der historischen Altstadt, in der "viele Häuser schon zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges standen", führen Fleißer-Spuren auch hinein in die Welt der Soldaten, die längst nicht mehr das Image prägt, wenngleich in Ingolstadt seit 2009 wieder Pioniere stationiert sind. Das ist noch die "einzige Holzbrücke über dem mit dunklem Wasser gefüllten Festungsgraben". Vom Parkplatz am Hallenbad, der die wunderbar geschlossene Altstadt von der - hierorts mitproduzierten - Autoflut verschont, leitet das Brücklein hinaus ins Glacis, in den gepflegten Grüngürtel des geschleiften Festungsringes. "Drüben ist es einsam," lässt Fleißer in einer dort spielenden Liebesszene sagen. Und das stimmt noch immer.
Karl Stankiewitz
Die Sonderausstellung "... den Stein ins Rollen gebracht ..." ist bis zum 25. März 2012 im Fleißerhaus, Kupferstraße 18 in Ingolstadt, so 11-17 Uhr und nach Vereinbarung zu sehen, Tel. 0841/ 305 1885.
Marieluise Fleißers Ingolstadt beschreibt auch das Kiebitz-Buch "Poetenpfade in Bayern" von Karl Stankiewitz