"Erpressung" in der Residenz: Das Pandämonium des Pippo Delbono
Assoziationsgewitter im Residenztheater: Die Uraufführung von Pippo Delbonos Stück "Erpressung" ist so etwas wie eine beabsichtigte Themaverfehlung, und doch phasenweise großes Theater. Keine Handlung, mitunter dick aufgetragen - und doch kann diese groteske Revue berühren.
Die Nase so gewaltig wie ein Erker, jeder der grauen Bartstoppel von den Ausmaßen eines Strohhalms, die Augen so groß wie Verkehrsschilder: In dieser Projektion seines Gesichts, die nahezu den gesamten Bühnenraum des Resi einnimmt, hat sich Regisseur Pippo Delbono gegen Ende im wahrsten Sinne des Wortes in den Vordergrund gespielt.
Man kann nun rätseln, was die riesenhafte Projektion genau zu sagen hat. Sie bietet auf jeden Fall einen Anhaltspunkt: "Erpressung" ist auch eine Innenschau Delbonos, und dementsprechend assoziationsreich - man könnte auch sagen: hin und her mäandernd - entwickelt sich dieser Abend. Ja, bleiben wir ruhig beim Ober- und Sammelbegriff Abend: Collage, Revue, Farce, - alles mögliche ist diese Inszenierung Delbonos, die anspielungsreich alles Mögliche streift. Berlusconi, Dachau, Hohes Lied, Christian Wulff, deutscher Ordnungswahn am Anfang eines Deutschen Herbstes, die Liebe, der Hass, Rituale der Macht, ihr Scheitern, die Theatralik der Politik, Shakespeare, Epressung und Hingabe - es wird am Ende nicht vieles sein, das Delbono ausgelassen hat.
Die Klammer, so man denn eine suchen will, bildet der Vortrag eines Conferenciers. Arthur Klemt spielt den Gaudiburschen, eingehüllt in einen goldglänzenden Anzug, pendelnd zwischen der Ungeschicklichkeit eines Drittklassigen und jovialer Grausamkeit. Wunderbar, wie immer wieder die Hand zum Scheitel wandert: da versichert sich ein Unsicherer des Sitzes seines Toupets. Gnotschi, Amore, Azurro - ein Schlagwort reiht sich ans nächste, und man ahnt, wie viel Italienverachtung hinter dieser angeblichen Liebe zum Stiefel steckt. Am Ende wird er kudern und lachen, ja, diese Sentimentalitá - ja, so isser halt, der Italiener. Mag sein, dass Delbono da das Gefühl beschlichen haben mag, dem Publikum Pathosbewältigung schuldig zu sein. Denn Pathos breitet er aus, in seinem riesig projizierten Auftritt, in dem er von der Liebe spricht und kreischt, der Liebe, die uns besitzt, zu Grunde richtet, aufrichtet, mit der wir altern und uns verjüngen.
Der Abend beginnt gewaltig und gewalttätig. Marie Seiser trägt im adretten Kleid und mit Brille Benimmregeln für die Frau von heute vor: "Falsch!" - und "Jaaaaha". Doch schon betreten Robert Niemann und Wolfram Rupperti die Bühne. Der Bub soll Flöte lernen, doch der Lehrer beschimpft ihn nur. Die Beschimpfungsorgie wird von anderen Schauspielern aufgenommen, ein Katarakt von Beleidigungen prasselt in den Zuschauerraum, bald donnernd unterlegt von Nina Hagen. Romeo und Julia treten auf, als schwules Paar in graues Licht getaucht. Das ist nicht mehr romantisch, natürlich, es ist desillusionierend und traurig. Betresste Militärs wiegen sich im Walzerschritt, eine Zusammenkunft - wer hat sich da zu welchem Zweck an einen weiß gedeckten Tisch gesetzt? - entwickelt sich vom Korruptionsuntersuchungssauschuss in ein Nazi-Tribunal. "Was? Nein!" "Doch" "Ohhhh!" - Delbono hat sich offensichtlich auch von Luis de Funes inspirieren lassen.
Am stärksten ist der Abend, wenn er von Ambivalenz erzählt. Delbono fährt einiges an Gegensätzen auf. Er behauptet etwas - und stellt es im nächsten Augenblick in einen anderen Zusammenhang und damit in Frage. Jürgen Stössinger etwa erzählt als alter Mann in anrührenden Worten von einer grauenvollen Kindheit in Kaliningrad. Später werden wir ihn aufgebahrt sehen, von kaltem Licht beleuchtet, wie in einer Leichenhalle. Liebe beglückt - und zerstört. Wo Liebe ist, ist auch der Hass. Macht wiederum soll ein Gemeinwesen ordnen - doch das Streben nach ihr zersetzt es. In einer Videoeinspielung sehen wir den wolkenweiß beflockten blauen bayerischen Himmel. Die Kirchenglocken tönen, die Kamera wandert nach unten - und wir finden uns auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau wieder. Und dort lernen wir Bobò kennen; Delbonos Muse, ein dürres, gebeugtes Männchen. Delbono befreite Bobò aus dem Irrenhaus, weil er sich in ihm in schwerer Lebensphase wiederfand, auch weil er von Bobòs körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten lernte: Ein Analphabet, der nicht einmal Gebärdensprache beherrschen muss, weil seine Geste Ausdruck genug ist.
Der Abend liefert wunderbare Bilder. Anneliese Neudecker hat dafür ein monumentales Bühnenbild geschaffen, das bei aller Strenge großen Spielraum bildet. Einen Raumtrichter hat sie gebildet, der sich düster nach hinten hin verengt. Sieben Trennwände heben sich nach und nach, dann sieht man ein Fenster. In seiner ersten Videoeinspielung taucht darin schon Delbonos Gesicht auf; ein Regisseur, der einen Blick ins Guckkastentheater wagt.
Gute, treffende, überzeugende und anrührende Bilder, wie gesagt. Einen klassischen Theaterabend macht das nicht. Ein Pandämonium lässt Delbono vor den Augen des Publikums erstehen, doch fragt man sich mitunter, welche Geister er beschwören will. Vermutlich darf man sich die selber aussuchen: Pflegt nicht jeder seinen Hausdämon? Die sieben Trennwände geben jedenfalls nicht einfach tiefere Einsichten preis: Der Blick taucht Schicht um Schicht immer tiefer, das Stück bleibt dem rein auf Analyse gepolten Besucher dennoch ein Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht sollte man sich von seinen Erwartungen auch einfach nicht - erpressen lassen.
Nächste Vorstellungen am 17., 25. Januar, 1., 10., 18., 20., 27. Februar 2012